Auf der Flucht
Verknüpfungen sind zerstört, der Gesamtbau zerbrochen, in Bruchstücken zerbröselt. Doch nach einem kurzen Augenblick panischen Innehaltens und wüsten Durcheinanders unter den Überlebenden stellt sich, noch mitten im Chaos, ein hektisches Bemühen ein, die schlimmsten Schäden zu beseitigen. Es wuselt – scheinbar zweck- und ziellos, aber in Wahrheit dem Prinzip verpflichtet, die alte Ordnung auf verwüstetem Raum wieder herzustellen. Leichenbestatter tragen die Toten weg, Ordnungskräfte räumen Hindernisse aus dem Weg, Kolonnen von Arbeitern beginnen, aus den Trümmern neues Leben zu konstruieren. Es ist keine Zeit für Trauer, nicht einmal für Umkehr, vielmehr wird dort begonnen etwas aufzubauen, kleiner zunächst, wo vorher groß und trutzig etwas gestanden hat.
Es war erstaunlich, wie schnell in den zerschlagenen Kommunen der Verkehr wieder funktionierte, wie Straßenbahnen, S-Bahnen, Eisenbahnen und Busse an Wüsteneien ebenso selbstverständlich vorbeifuhren wie früher an intakten Siedlungsgebieten und dicht gedrängten Häusern. Post- und Telefonverbindungen waren nie vollständig unterbrochen. Die den Preußen abgeschaute Ordnung in Landkreise, Kreise, Städte, in Provinzen und Verwaltungsbezirke blieb – seltsamerweise? notgedrungen? – in Takt. Die Behörden registrierten und verwalteten alle: mit Bezugsscheinen, Lebensmittelkarten, Einwohnermeldeformularen, Wohnungsverteilungsgutscheinen – der entpolitisierte Apparat arbeitete perfekt, auf ihn konnten sich die Besatzungsmächte verlassen, auf ihn konnten sie bauen. Sie mussten, was die Gedanken und Überzeugungen betraf, nichts mit den Menschen darin zu tun haben. Die Beziehungen waren seltsam »leer« – ideologiefrei würde man später sagen, sie funktionierten aber auf der verwaltungstechnischen Ebene, der Mangel wurde verwaltet, die Not geordnet, es gab alles – nur kein Chaos.
Und das in einem Land, dessen Bevölkerung wirklich zernichtet, verstreut, um ihre Behausung gebracht und durcheinander gewirbelt worden war! Das Land glich wirklich einem aufgestörten Ameisenvolk, dessen verschreckte Völkerzüge hierhin und dahin strebten, Unterschlupf in den Trümmern suchten, sich in Verhauen, Kellern und Behelfsheimen, in Bunkern und Baracken einrichteten und auf engstem Raum miteinander kampierten.
Bis heute wundert mich, der ich mit meiner Familie mittendrin scheinbar ziellos im Zickzack lief, wie die willkürlich Verstreuten sich wiederfanden, wie sie wieder Verbindungen knüpften, Kontakte aufnahmen und einen Zusammenhalt suchten, der doch so gründlich zerschlagen worden war.
Deutschland bietet selbst hartnäckigen Patrioten durch seine Geschichte und die daraus resultierende Kleingeisterei und Engstirnigkeit nicht allzu viel Grund zur Liebe – aber aus dem Rückblick ist das, was wir aus dem zertretenen Ameisenhaufen formten, größer und komplizierter noch als zuvor, wenn schon nicht Hebens-, dann doch bewunderswert. Dass wir uns, als wir später, Mitte der sechziger Jahre, im Bau des Ameisenhügels innehielten, selber auf die Schulter klopften: sympathisch mag das nicht gewirkt haben auf andere. Aber verständlich war es schon.
Der Grubenhund
Wir waren allein, auf uns gestellt, uns selbst überlassen – während mein Vater seinem für ihn gewiss schrecklichen Beruf als Bergarbeiter nachging, der ihn täglich von Stollberg nach Neu-Oelsnitz pendeln ließ. Und dann kam er oft nächtelang nicht nach Hause, wir fürchteten, ihm sei etwas passiert, wir verfügten ja über keinerlei Kommunikationssysteme, hatten kein Telefon in unserem Kellerloch. Es war eine finstere Zeit, aber mein Vater war trotzdem ein aufopfernd sorgender Familienvater.
Von Ende Mai 1945 bis zum Sommer 1946 habe ich so gut wie keine Eisenbahnen und Autos gesehen. Erst als wir ins Erzgebirge ausgesiedelt worden waren, tauchten wieder welche in meiner Erinnerung auf: Wir fuhren zusammen in überfüllten Zügen, auf Trittbrettern hängend, aufs Land, um dort »stoppeln« zu gehen, das heißt nach der Ernte auf Ährenlese, nach der Kartoffelernte auf Kartoffellese. Die Ausbeute war fast immer verheerend gering. Vielleicht auch mangels Begabung habe ich, wenn das Feld vom Bauern freigegeben wurde und sich die am Rain wartende Menge auf die abgeernteten Äcker stürzte, nach vielen Stunden wie zum Hohn auf unseren Hunger eine zerschlagene halbe Kartoffel mitgebracht. Andere kamen mit ihren Habseligkeiten, um sie den Bauern zum Tausch anzubieten. Mein Vater,
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