Auf der Flucht
der ja schon vor der Aussiedlung als Knecht auf einem Bauernhof gearbeitet hatte, fuhr mit mir und bot den Bauern seine »Armut« an: Er durfte sich als Bergarbeiter gewohnheitsrechtlich jedes Schichtende ein Stück Kohle zurechtschlagen, so dass es als große, grobe, dicke, schiefrige, schwarz glänzende Platte in seine Aktentasche passte. Wir hatten zu heizen, aber nichts zu kochen. Nun bot er einige solcher Brocken den Bauern zum Tausch an. Er wollte das Tauschgeschäftsklima durch Gespräche »von Bauer zu Bauer« auflockern, um die kleinlich armen, geizigen Landwirte in eine solidarische Stimmung zu versetzen – ihre durch den Lebenskampf und den Nachkrieg erworbene Hartherzigkeit erweichen. Also beförderte er sich in seinen Gesprächen zum vertriebenen Bauern – und flunkerte, während er das schwarz aufblitzende Kohlestück im Zeitungspapier auf den Tisch legte, etwas von Haus und Hof, zwölf Kühen, drei Pferden, unzähligen Hühnern, Enten und Gänsen. Die ständige Flüchtlingsredensart hieß: »Wir haben alles verloren!« Und ich, altklug und naseweis wie ich war, wollte ihn unterstützen und mischte mich ungefragt in das Gespräch ein, indem ich Details aus dem Leben eines Bauernsohnes beitrug.
Ich weiß nicht, wie geschickt mein Vater war – ich jedenfalls muss einen derart hahnebüchenen Unsinn von mir gegeben haben, dass mein Vater, wenn er seine »Armut« wieder eingepackt hatte und wir unverrichteter Dinge vom Hofe schlichen, ein bisschen wie geprügelte Hunde, seine Enttäuschung und vielleicht auch berechtigte Wut an mir ausließ, indem er mich schimpfend bat, doch künftig den Mund zu halten und nicht über Sachen zu reden, von denen ich nichts verstünde. Ich wurde schamrot, auch weil ich mich mit meinen zwölf Jahren als so schlechter Helfer und Kumpel erwiesen hatte. Seit der Zeit habe ich das Gefühl für Blamagen nicht vergessen und verloren – wenn man spürt, wie einem die Röte mit schweißtreibender Wärme von Innen ins Gesicht zieht, das einem auf einmal schwammig und aufgedunsen vorkommt.
Später habe ich bei Mark Twain gelesen, wie der von Landwirtschaft Ahnungslose Redakteur einer Landwirtschaftszeitschrift wird und in einem Artikel warnend schreibt, man solle bei der Kürbisernte vorsichtig sein, dass einem die schweren prallen Früchte nicht von den Bäumen auf den Kopf fielen. So toll und dumm werde ich es bei meinen altklugen Bemerkungen bei den erzgebirgischen Bauern nicht getrieben haben. Noch weit von meiner journalistischen Profession entfernt, bin ich jedenfalls damals erstmals dem Phänomen des »Grubenhundes« von Karl Kraus begegnet, der Gefahr, sich durch hochstaplerisch überspielte Ahnungslosigkeit zu verraten. (Viel später sollte das Borderline-Journalismus heißen.)
Von Rudolf Augstein habe ich dann die Erkenntnis gehört: »Die Hand des Fälschers darf bei der Scheckunterschrift nicht zittern!« Das ist die eine Seite. Die andere: Der Hochstapler muss wissen, wovon er flunkert. Dass ein Grubenhund kein Tier ist, Kürbisse nicht in den Himmel wachsen und ein Ochse keine Milch gibt. Aber ich weiß auch, dass mein Vater nicht über mein gut gemeintes Aufschneiden böse war, sondern dass er an mir nur seine Enttäuschung ablud, weil er nichts zu Essen nach Hause bringen konnte.
Im Radio hörte ich damals Bully Buhlan, meinen deutschen Frank Sinatra, wie er, zusammen mit Rita Paul, als Parodie auf den amerikanischen Eisenbahn-Schlager »Chattanooga Choo Choo«, im »Kötzschenbroda«-Express den Reisealltag im Zwiegesang schilderte:
»Verzeihn Sie mein Herr
Fährt dieser Zug nach Kötzschenbroda?«
»Ja, ja, er schafft es vielleicht
wenn's mit der Kohle noch reicht!«
»Ist hier noch Platz
in diesem Zug nach Kötzschenbroda?«
»Ja, ja, das ist nicht schwer
Wer nicht mehr stehn kann liegt quer.«
Und dann ging es im Duett weiter:
»Ja für Geübte ist das Reisen heute gar kein Problem
Auf dem Trittbrett oder Puffer fährt man bequem
Und dich trifft kein Fußtritt
Fährst du auf dem Dach mit
Obendrein bekommst du dort noch frische Luft mit.«
»Mittags fährt der Zug an deinem Hause vorbei
Nachmittags ist die Strecke von Berlin noch nicht frei
Nachts in Wusterhausen
Lässt de dir entlausen
Und verlierst die Koffer nebenbei noch dabei.«
Deutschland war am Boden, aber noch nicht wirklich geteilt. Und so krähte man sich die Verzweiflung und den Hunger vom Leibe – Frust hörte damals noch auf den Namen
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