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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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traurig, schloss mich ein und sang Hermann Löns. Später habe ich mich geschämt, weil ich bloß wegen meiner egoistischen Liebe meinen Vater länger in den Kohlenschacht gewünscht hätte. Rosie habe ich nie wieder gesehen. Ich habe noch oft und lange in kalten und verdunkelten Zügen auf kalten Bahnsteigen und auf freier Strecke aufgrund der Eingleisigkeit herumgestanden. Aber zu Hermann-Löns-Gefühlen ist es dabei so schnell nicht mehr gekommen. Und nie wieder hat mein Herz, auch nicht um des Reimes willen, sieben Jahre geschrien.
     
    Vor einigen Jahren – die Wiedervereinigung machte es möglich – war ich wieder in Stollberg. Die Schule und eine Buchhandlung hatten mich zu einer Lesung eingeladen und so war ich wieder in der wunderschönen Aula, deren Glanz der Erinnerung durchaus standhielt. Nach der Lesung sprach ich mit zwei, drei freundlichen Frauen, die sich mir als Mitschülerinnen vorstellten. Von Rosie Stiehler wusste keine etwas. Ihre Klassenkameradinnen hatten seit vielen Jahren nichts mehr von ihr gehört. Der Zufall wollte es, dass Stollberg wieder eingeschneit war und dass ich in der Nacht weit außerhalb der Stadt auf einen stillgelegten Kohlenförderturm blickte, der, Teil eines Industriedenkmals, hell erleuchtet war. Ich blickte in die weiße, gelb angestrahlte Landschaft, konnte nicht schlafen. Nach der Lesung hatte man mir eine Flasche Rotwein als Präsent gegeben. Im Zimmer war kein Korkenzieher und so habe ich Schlafloser die Flasche mühsam mit einer Nagelfeile und einem Messer entkorkt. Am nächsten Morgen sah das Bad aus, als wäre ein Korkenregen darüber niedergegangen.
    Das Flaschenöffnen dauerte fast eine halbe Stunde, das erste Glas Wein war voll mit Korkenteilchen. Ich mochte kein zweites. Und da ich meine Korkenspuren nicht verwischen konnte, habe ich wenigstens den offenen Wein in den Ausguss gekippt – um die Schenker nicht zu kränken.
     
    Es war eine seltsam dunkle Zeit – auch wegen der realen, viele Stunden langen Stromsperren –, wir lebten wie viele Deutsche in dunklen Höhlengängen, durch die wir uns blind tasteten. Aber, um im Bild zu bleiben, mehr und mehr hörten wir Klopfgeräusche, Signale von anderen in die Höhlen Verschlagenen. Weniger metaphorisch: Es war erstaunlich, wie die sich scheinbar wahllos durch den Krieg und Nachkrieg über ganz Deutschland Verstreuten nach und nach wieder fanden.
     

Bernburg an der Saale
     
    Irgendwann waren meine Eltern bei ihrer Suche nach alten Bindungen, nach Freunden und Verwandten, auch auf Martel K. gestoßen, die mein Vater aus den späten Kriegstagen in Teschen kannte.
    Sie war als glühende Deutsche (vielleicht als Lehrerin oder durch die deutsche Frauenschaft) aus Bernburg an der Saale nach Teschen gekommen und hatte dort meinen Vater kennen gelernt, eine Verbindung, bei der private und politische Sympathie Hand in Hand gingen. Ihr Vater und ihr Bruder hatten in Bernburg eine kleine Papierfabrik, die Verpackungsmaterial herstellte, Tüten, Butterbrotpapier und Beutel. Und sie verfügten jetzt noch über gehortete Vorräte, gut für Tauschgeschäfte mit Bauern und Molkereien. Martels Bruder Otto wickelte die Geschäfte mit dem Fahrrad ab oder fädelte sie zumindest mit Fahrradreisen ein. Wie transportiert wurde, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls hatte Familie K. Lebensmittel, und der anhaltinische Boden um Bernburg und Köthen war viel fruchtbarer und ergiebiger als das Erzgebirge. Ich erinnere mich an die vielen Tomaten, die mein Vater und ich für die K.s abholten – wir bekamen unseren Anteil. Und wie ich einmal mit dem Fahrrad auf einer holprigen Köthener Straße unter ein Auto gekommen bin. Es war das einzige Auto, das wahrscheinlich seit Tagen durch diese Köthener Straße gefahren war, ein kleiner Holzvergaser-Lastwagen, dementsprechend stank und fuhr er. Wahrscheinlich war es mein Ungeschick, das zu dem Unglück führte. Der Boden war jedenfalls nachher blutrot, mein Vater kreideweiß. Aber bei dem roten Saft handelte es sich nur um die zerquetschten Tomaten. Mir und vor allem dem wichtigen Fahrrad war so gut wie nichts passiert. Ich lernte damals: ein zu geringes Verkehrsaufkommen ist ebenso gefährlich wie ein großes, weil es zu Unachtsamkeit verführt.
    Wegen der Tomaten und wegen »Tante Martel« (wie ich sie nannte) sind wir vom Erzgebirge nach Sachsen-Anhalt, nach Bernburg an der Saale gezogen.
    Mein Vater hatte also Martel K. aufgestöbert, besucht, einen Arbeitsplatz in einer Tischlerei einige

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