Auf der Flucht
Kilometer außerhalb von Bernburg gefunden, die K.s halfen ihm, eine Wohnung zu suchen, und sie fanden zufälligerweise sogar eine im großbürgerlichen Nachbarhaus ihres Anwesens. Die kurze Straße führte direkt aufs Saale-Wehr zu, wo sie eine scharfe Biegung nach rechts zum Kurhaus machte; stand man in der Biege, konnte man am anderen Saale-Ufer – der Fluss schäumte giftig und kräftig über das Wehr – hoch über dem Fluss die Burg mit ihren geschnörkelten Erkern und gebuckelten Renaissance-Türmchen sehen und unweigerlich fiel einem das Lied ein, dass »an der Saale hellem Strande, Burgen stolz und kühn« stehen. Die Brücken über die Saale waren damals noch allesamt gesprengt, eine Fähre setzte von der Straße direkt hinter unserem Haus über, dann musste ich den Berg hinauflaufen und schon war ich in der Schule, deren Silhouette, ein wuchtiger rotziegliger Bau, ebenfalls vom Strom aus neben der Burg zu sehen war. Die Schule hieß Karls-Gymnasium, wenig später wurde dem feudalen Karl ein proletarischer Familienname angehängt, von da an hieß sie bis zur Wende Karl-Marx-Oberschule und ich eilte jeden Morgen erst zur Fähre, später zur Behelfsbrücke, ans andere Ufer der Saale. Der Weg zur Schule führte vorbei an geduckten ebenerdigen Häusern über den Schulhof, wo kurz vor acht mein Klassenlehrer »Mope« Kersten stand, im weißen Physiker-Mantel, mit dicker schwarzer Hornbrille, nass zurückgekämmtem schwarzem Haar, ostentativ auf seine Armbanduhr blickend, wozu er den Arm zackig anwinkelte und sagte: »Karasek, einmal erwische ich dich beim Zuspätkommen!« Und ich stürzte atemlos und grinsend an ihm vorbei. Er hat mich nie erwischt.
Von einem der kleinen Häuser, an denen ich täglich, ohne gefrühstückt zu haben, aus Eile und weil es kaum etwas gab, vorbeitrabte, hatte mir ein Mitschüler leise, hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass es früher mal – vor dem Krieg?, vor Hitler?, zu Kaisers Zeiten? – ein Bordell gewesen sei. Ich starrte das halb verfallene Haus mit den staubblinden Fenstern und der bröckelnden Fassade an, obwohl es nicht anders aussah als die Nachbarhäuschen, die da in Unkraut, Müll, zwischen zerbrochenen Zäunen herumstanden: Das also war einmal ein Bordell! Ich hätte ein Gebäude, in dem früher ein General oder großer Dichter gelebt haben sollte, nicht neugieriger betrachten können, so als ließe sich die große Vergangenheit allein durch das Zurückstarren erschließen.
Ich erwähne das alles nur, weil mir zwanghaft einfällt, was mir damals zwanghaft einfiel, und weil mir klar ist, was für ein Dörfler, Provinzler, Kleinstädter ich bis dato gewesen war. Jetzt war ich zum ersten Mal in einer Stadt, in der es nicht nur eine Burg mit einem Bärenzwinger und richtigen Bären gab, die nicht nur Residenz eines Duodez-Fürstentums gewesen war, nämlich von Anhalt-Bernburg, in der es nicht nur ein Theaterchen gab, in dem ich später sogar auftreten sollte, nicht nur ein Symphonie-Orchester, nicht nur eine berühmte, auch noch intakte Blumen-Uhr, sondern auch ein winziges Bordell mit vielleicht zwei, drei Zimmern. Natürlich merkte man fünfzig, sechzig, siebzig Jahre später nichts mehr davon, keinen süßlich dicken Parfümhauch, man sah keinen Flitter mehr, kein Strumpfband, keine gesprungene Feder in einem einst mit rotem Samt überzogenen Sofa. Bei den kleinen uralten Häusern hatte die fünfzigjährige Erosion begonnen, am Ende der DDR waren auch sie so weit, zusammenzubrechen, von schrägen Balken ächzend gestützt. Und ich suchte in ihrem Verfall noch die perversesten Reste spätbürgerlicher Kultur.
Mit meinem kleinen Bruder auf großer Reise
Bevor wir nach Bernburg zogen, in den Sommerferien, schickten mich meine Eltern mit meinem Bruder Horst alleine auf die Reise vom Erzgebirge nach Bernburg, damit wir uns ein paar Wochen bei der wieder gefundenen Freundin meines Vaters und deren Familie an Tomaten satt essen könnten. Es blieb dann aber nicht bei Tomaten, bei den K.s gab es am Sonntag Nachmittag sogar Kaffee (natürlich keinen echten, sondern »Muckefuck«, wie der Gerstenkaffee hieß) und (echten) Streuselkuchen. Für uns waren es die ersten Schritte der Rückkehr in ein bürgerliches Leben, wo eine Familie rituell bei Kaffee und Kuchen saß. Der alte Herr K., ein brummiger, aber herzlicher Patriarch, dem das Alter schon die Knochen und Glieder verschoben hatte, seltsam bucklig und eckig in seinem Hemd und der Hose mit den Hosenträgern,
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