Auf der Flucht
Rest der Familie, wie uns flüsternd bedeutet wurde, schon schlief. Die ältere der Schwestern, sie mochte Mitte zwanzig sein, nahm uns in ihr Zimmer, in dem zwei Betten an zwei gegenüberliegenden Wänden standen, die mit dicken Kissen und Decken bedeckt waren. Ohne weitere Umstände bot sie meinem Bruder und mir das eine Bett an, machte das Licht aus und wir schliefen schnell ein.
Ich wachte am nächsten Morgen – nervös, weil ich den einzigen oder zumindest ersten Anschlusszug nach Köthen nicht verpassen wollte – beim frühen Licht auf, blickte auf das gegenüberliegende Bett, in dem meine Gastgeberin schlief, und war erschrocken. Während an der Wand tief und ruhig mein schlafender Bruder atmete und auch die Frau, die uns – zwei unbekannte Straßenjungen – vertrauensselig und fürsorglich in ihr Zimmer genommen hatte, tief schlief, blickte ich auf ihren im Schlaf frei gestrampelten nackten Hintern. Was mache ich jetzt, dachte ich, eigentlich müsste ich meinen Bruder wecken, aufstehen, den Zug erreichen. Aber kann ich die Frau, die uns so selbstverständlich aufgenommen hat, so blamieren? Ich blieb reglos liegen. Als sie aufwachte, schloss ich die Augen, blinzelte, bis ich sah, dass sie ihre Blößen bedeckt hatte.
Mein Bruder und ich haben den Zug verpasst. Aber schon sechs Stunden später fuhr der nächste. Deutschland war wieder auf dem Fahrplan.
Quäker-Speisung
In Bernburg gab es neben den Tomaten von Onkel Otto K. und dem sonntäglichen Streuselkuchen von Tante Waltraud auch von Zeit zu Zeit Schulspeisungen. So erinnere ich mich an eine Quäker-Speisung, bei der wir Eintopfsuppen bekamen, Drapix hieß eine davon und beide schmeckten nach Maisbrei und Erbswurst. Einmal, als ich mir den Bauch wirklich voll schlagen konnte, bis ich buchstäblich bis oben voll war, habe ich das gierig Verschlungene nicht bei mir behalten können und es eruptiv und unter Krämpfen wieder von mir gegeben. Danach ekelte es mich vor dieser Suppe, aber nicht lange, nur bis der Hunger und das Verlangen wieder die Oberhand gewannen – also am nächsten Tag.
Ich hatte, so erinnere ich mich, mittags als einer der Letzten an der »Gulaschkanone« gestanden, an der Rote-Kreuz-Helfer mit großen Kellen in Pappteller ausschenkten, und die gutmütigen Helfer hatten mir, der ich mich wieder und wieder mit schelmisch überspielter Unverschämtheit angestellt hatte, jedes Mal den Teller mit einem Nachschlag nach dem anderen aufgefüllt – buchstäblich bis zum Erbrechen.
Diese Quäker-Speisung prägte sich mir, prägte sich uns ein, weil sie – das muss 1948, vor der alles verändernden Währungsreform, gewesen sein – die letzte humanitäre Wohltat war, die die Amerikaner, also die westlichen Besatzungsmächte, uns angedeihen ließen, angedeihen lassen durften. Die längst von der »Sozialistischen Einheitspartei« beherrschten kommunalen Verwaltungen machten uns bald drastisch klar, dass wir diese westliche Hilfe nicht zu wollen hatten. Den Gipfel erreichte das in den Volksbefragungen zum Marshall-Plan, zu dem die Devise ausgegeben worden war: »Wir brauchen keinen Marshall-Plan! Wir kurbeln selbst die Wirtschaft an.« Aber in Wahrheit wurde nichts »angekurbelt«, es wurde weiter demontiert, das Land versank in staubgrauer Lethargie.
Ich weiß, dass da zum ersten Mal diese ohnmächtige Wut bei mir und meinen Freunden freigesetzt wurde, eine Wut, die sich mir später bei der Lektüre von Orwells »1984« erschloss: Der Kommunismus entlarvte sich mir erstmals als das Regime, das die »Volksdemokratie« erfunden hatte, eine Demokratie, bei der das Volk – als Arbeiter, Bauern und technische Intelligenz klassifiziert, der Rest waren Volksfeinde – lauthals und öffentlich zu über 90 Prozent einer Sache zustimmen musste, die es in Wahrheit, heimlich und zu Hause, zu über 90 Prozent ablehnte. Und es durfte dieser zynischen Farce nicht einmal fern bleiben. Es musste zur Wahl, natürlich höchst »freiwillig«, um die über 95 Prozent zu erfüllen. Dort musste es auf die geheime Wahl, auf die Wahlkabine verzichten, weil man da ja unbeobachtet gewesen wäre, und wer weiß, was das Volk gewählt hätte.
Ich war damals als Schüler zum »Wahlschlepper« verpflichtet, ich musste die Alten, die ihr Kreuz gegen sich selber machen mussten, zur Wahlurne bringen. Diese Abstimmungen haben mich zum verzweifelten Gegner der so genannten Volksdemokratien gemacht und ich fragte mich in den Folgejahren voller ohnmächtiger
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