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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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seine Schwiegertochter von mütterlicher Fülle, weich fließend in ihrem Kleid und stets lächelnd, ihr Mann, der steif und fröhlich mit uns Kindern scherzte, ein blondes blasses Fräulein, dass Gerti hieß, glatte Haare streng gescheitelt trug und mit ihrer Mutter unter dem Dach in schrägen Zimmern wohnte, wo sie Geige spielte (später sollte sie einen viel älteren Leipziger Dirigenten heiraten), die Kinder, die lustig und artig zugleich waren – es waren drei, ein viertes sollte folgen –, und eben Tante Martel, die den Kuchen auftat, den Nachmittag dirigierte und mit lebhaften Gesprächen dominierend glänzte. Ich erinnere mich daran so lebhaft, weil diese Kaffee-Nachmittage für mich ein leuchtendes Beispiel für die scheinbare Unzerstörbarkeit des deutschen Bürgertums waren: Die äußeren Umstände blieben draußen, das Klavier stand an der Wand, die Kaffeekanne hatte einen Tropfenfänger aus rotem Schaumgummi, die Kuchengabeln und der Kuchenheber waren aus Silber und die Porzellantassen und -teller hatten Blümchen.
    Die Hausfrau, deren füllige Liebenswürdigkeit und herzliche Freundlichkeit ich nie vergessen will, wir nannten sie später Tante Waltraut, stammte aus Goslar. Goslar, das auf einmal durch Welten getrennt von Bernburg lag. Später habe ich erlebt, wie diese unzerstörbar unerschütterliche Bürgerfamilie vom Sozialismus zerschlagen und zerstört wurde, zuerst mit Steuer-Schikanen, dann indem man den Mann wegen Wirtschaftsverbrechens einsperrte, die Kinder aus dem Haus trieb. Waltraud blieb zwar geduldig und liebevoll bei ihrer Familie, die mehr und mehr verelendete, während ihre Goslarer Verwandtschaft, auch Kaufleute, im Westen ins normale Leben zurückfand – die Kinder liefen bald in geflickten Kleidern herum, die Möbel wurden brüchig und der Firmenhof verkam. Die Ladenfenster an der Vorderfront waren mit Presspappe zugenagelt.
    Es sagt sich leicht: Sie hätten, vom Regime zu Klassenfeinden erklärt, fliehen sollen. Aber sie wollten bei ihrem Eigentum bleiben, das ihnen der neue Staat nach und nach mit bösem Vorsatz zertrümmerte und sich auch noch einbildete, einen gerechten und historisch notwendigen Klassenkampf zu führen. Dabei hatten sie nichts anderes gemacht, als Papiertüten zu fabrizieren, Butterbrotpapier zurechtzuschneiden und zu verkaufen. Gewiss, sie hatten den Krieg verloren. Aber das hätten ihre Verwandten in Goslar auch.
     
    Mein Bruder und ich fuhren also allein mit der Eisenbahn von Neu-Oelsnitz über Leipzig, Halle und Köthen nach Bernburg und das war damals kein kleines Abenteuer. Ich war vierzehn Jahre alt, mein Bruder acht. Wenn wir aus den zertrümmerten, notdürftig in Funktion gehaltenen Bahnhöfen herausfuhren, sah ich fasziniert und sehnsüchtig nach den Häusern an der Bahnstrecke: Balkone waren da, und weil es Sommer war, herrschte Leben, da wuchsen Pflanzen in grünen Kästen, Tabakblätter hingen zum Trocknen wie Wäsche auf der Leine, Tomaten leuchteten rot und die Kaninchenställe waren ordentlich aufgestellt. Die ganze Idylle wurde beschienen von der goldenen Abendsonne, während mein Bruder und ich vorbeifuhren und eigentlich noch nicht so recht wussten, wohin.
    Als es Abend wurde, landeten wir in Halle, wir waren auf dem Riesenbahnhof von Leipzig umgestiegen, der in seiner zerborstenen Größe wie verwaist aussah, weil die meisten Gleise gesperrt waren. In Halle endete der Zug und an ein Weiterfahren vor dem nächsten Morgen war nicht zu denken. Auf dem nächtlichen Bahnhof kampierten Passagiere auf dem Boden, allerlei Gestalten, die mir bedrohlich vorkamen. Ich nahm meinen Bruder an der Hand, wir hatten kaum Gepäck und zogen durch die sommerwarme Stadt, die still und wie ausgestorben war. Bald kamen wir durch eine Gegend, die mich beruhigte, weil sie aus Schrebergärten bestand, viel Grün, Bohnenspaliere, Bäume, Sträucher, Zäune, Lauben, kleine Hütten. Und dann kam uns in der stillen Straße eine Gruppe junger Leute entgegen. Junge Frauen, junge Männer, die aufgekratzt und lachend offenbar von einem Laubenfest kamen. Als sie uns zwei Kinder mitten in der Nacht sahen, hielten sie uns an und fragten, wo wir denn hinwollten. Als ich ihnen erzählt hatte, dass unser Zug erst am nächsten Morgen weiterfahre, beratschlagten sie kurz und beschlossen, dass sie uns nicht allein den nächtlichen Straßen überlassen wollten. Zwei der jungen Frauen, offenbar Schwestern, nahmen uns in ihre enge Wohnung mit. Dort mussten wir leise sein, weil der

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