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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Nischengesellschaft, ein Begriff, der für die DDR geprägt wurde. Im Stalinismus war es einerseits so, dass, anders etwa als im Wahn der Hitlerei, die meisten in Deutschland »dagegen« waren. Sie wussten sich also, anders als in der Nazizeit, mit den meisten anderen augenzwinkernd und achselzuckend darin einig, dass sie gegen das waren, wofür sie offiziell zu sein hatten. Auch das erzeugt den Doublespeak, aber auch die Wohltaten des Doublespeak: die Freuden an der Ironie, die Genüsse der Anspielung, das Vergnügen, das es bereitet, wenn man sich die Doppeldeutigkeiten der Sprache zu Nutze machen kann.
    Daneben aber existierte die Angst vor Spitzeln: Der Nazi-Spruch »Pst! Feind hört mit!« war selbst doppeldeutig. War denn der Feind nicht derjenige, vor dem man sich als Freund (des Regimes) ausgeben musste, um die eigene Haut zu schützen? Ähnliches galt für den Stalinismus. Jeder musste um sein Leben aufpassen, nichts Falsches zu sagen! Es gab eine ganz real existierende Angst vor dem sowjetischen Geheimdienst und seinen deutschen Apparaten, von denen man wusste, dass sie vorhanden waren. Vorhanden und allgegenwärtig.
    Vor dem Abitur schien ich den Druck stärker zu spüren. Aber das mag auch daran gelegen haben, dass ich Gründe und Begründungen für die »Republikflucht« suchte, weil ich immer deutlicher wusste: Ich würde nach dem Abitur in den Westen fliehen. Vielleicht ist mir deshalb ein fast läppischer Vorfall in Erinnerung, den ich zum sprichwörtlichen »Tropfen« hochstilisierte, der das Fass zum Überlaufen brachte.
    Meine Eltern hatten, über das Buschtrommelsystem der Nachkriegsjahre, irgendeine Jugendfreundin ausfindig gemacht, die in Potsdam lebte, und sie auch dort besucht. Eines Tages kam dann diese Jugendfreundin zum Gegenbesuch nach Bernburg. Mit ihrem Mann, der es in Potsdam zu was gebracht hatte. Und zwar so sehr, dass die beiden 1952 mit dem eigenen Auto kamen und damit stolz vor unserem Haus parkten. Sie kamen herauf (wir wohnten schon im vorderen Teil der Wohnung), man umarmte und begrüßte sich, meine Mutter setzte Kaffee auf, zur Feier des Tages sogar »echten«, »richtigen«, den sie in einem Päckchen von ihrer Schwägerin aus Stuttgart bekommen hatte – inzwischen gab es allerdings auch welchen, wenn auch sehr teuer, in der »HO«. Der Mann verschwand gleich zu Beginn des Besuchs auf der Toilette, »die lange Autofahrt«, sagte er grinsend.
    Kaum war er aus der Tür, da blickte sich seine Frau ängstlich um und sagte zu meinem Vater und zu meiner Mutter und zu mir, wir sollten doch »Bitte, bitte!« vorsichtig sein, was wir sagen würden, wenn ihr Mann vom Klo wiederkäme. Er sei ja »sonst« ein lieber Kerl, aber er sei doch nun einmal in der SED und auch an wichtiger Stelle und deshalb sollten wir, »bitte, bitte« um Himmels Willen nichts Politisches sagen. Weil er doch alles melden müsse.
    Mir schnürte es, wie gesagt, die Kehle zu. Das Gefühl, nicht einmal in den »eigenen vier Wänden« noch offen sprechen zu können, war so bedrückend, dass ich unter einem Vorwand das Haus verließ. Und mir bei einem aufgeregten Spaziergang immer wieder leise wiederholte: Ich muss weg von hier. Nur weg!
     
    Grüne Grenze hieß die damals noch unsichtbare Demarkationslinie, die Ost von West trennte, der deutsche Teil des »eisernen Vorhangs«, den Churchill auf seiner berühmten Rede in den USA bereits 1945 zwischen dem Einflussbereich der Sowjetunion und dem der ehemaligen Kriegsverbündeten (die es formal immer noch waren) Großbritannien, den USA und Frankreich niedergehen sah. Den Eisernen Vorhang, der den Kalten Krieg bestimmte, als Drohung gegen den heißen, den wirklichen Krieg niedergelassen und ihn in Wahrheit verhindernd, wenn auch auf schreckliche Weise, diese Grenztrennung, später bewacht, kontrolliert, mit mehr und mehr Todesstreifen, Minengürteln, Wachhunden, Grenzsoldaten auf östlicher Seite, gab es nicht nur in Deutschland, sondern auch ein wenig in Österreich (bis sie nach dem Staatsvertrag an die Grenze zwischen Ungarn und Österreich rückte), immer undurchlässiger und martialischer in der Tschechoslowakei, besonders abstrus und grotesk aber in Berlin, wo sie zunächst, nach 1948, nur in den Schildern bestand, die Ostberliner vor dem Verlassen ihres »demokratischen Sektors« warnten. Später, als die Schilder und Drohungen allein nichts mehr halfen, wurde die Mauer erbaut, »Friedensgrenze« oder »Antifaschistischer Schutzwall« genannt, was sie auf

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