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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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zum Russischen zerstören, also den Unterricht sabotieren!«
    Genauso plump, wenn auch sicherlich nicht wörtlich so, sind wir aufgetreten, einer nach dem anderen. Die Russischlehrerin saß seitlich vom verhörenden Gremium und ich weiß nicht mehr, ob sie stark nach ihrem starken Parfüm roch. Der Duft kam nicht zur Sprache. Mit keinem Wort. Ich war, obwohl das nach dem Alphabet eigentlich nicht möglich war, als letzter dran. Ich sagte das Gleiche, was alle anderen gesagt hatten.
    »Haben Sie etwas gegen die russische Sprache?«
    »Nein, nein, ganz im Gegenteil! Ich liebe die russische Sprache!«
    »Und warum haben Sie sich dann im Unterricht so schlecht benommen? Wollten Sie den Russischunterricht sabotieren?«
    »Nein, nein, ganz im Gegenteil! Nein, ich wollte nur meiner Enttäuschung Ausdruck verleihen, wie schlecht wir in Russisch unterrichtet wurden.«
    Ich glaube, in diesem Augenblick fing die Lehrerin ziemlich haltlos an zu weinen. Sie oder wir? Sie hatte das Spiel verloren. Mein Klassenlehrer saß mit ausdruckslosem Gesicht da. Mir war elend zumute, andererseits dachte ich, sie hätte ja nicht anfangen müssen. Die alte dumme, kindische Frage: Wer hat angefangen? Sie hat angefangen! Gar nicht wahr, du hast angefangen! Lüge! Lüge.
    Wir haben sie nach dem Nachmittag im Konferenzzimmer nicht mehr wieder gesehen.
    Dann bekamen wir eine neue Russischlehrerin. Rothaarig, ziemlich jung, sympathisch. Bald wussten wir, dass sie die Freundin des Schulrats war, der einen sauber gestutzten Lenin-Spitzbart hatte und eine Lenin-Glatze. Er sprach fünf oder sechs Sprachen fließend. Russisch, Ukrainisch, Georgisch … und so weiter und so fort. Er sah gepflegt aus und soigniert, ein Bildungsbürger, ein Salon-Bolschewist. Zum Pech für unsere Russischlehrerin, sie hieß Mehlhose (das weiß ich auch deshalb, weil wir aus ihrem Namen einen Schüttelreim gemacht haben, der entwaffnend vulgär war), war er verheiratet und hatte wohl auch Kinder, denen er eine Zukunft gestalten wollte.
    Sie wohnte in einem der wenigen intakten Altbauhäuser an der Saale, zu ebener Erde, kochte Tee, wenn man sie besuchte, und hatte Postkarten von Dürer-Bildern an der Wand. Auf ihrem Schreibtisch stand eine Foto des Schulrats. Im Wechselrahmen. Sie sprach nur gut von ihm, sozusagen in höchsten Tönen. Schließlich war er auch ein Machtfaktor. Und ein imponierender Mann zudem. Ich war neben meinen viel sportlicheren und sportlicher aussehenden Klassenkameraden nur die zweite Wahl als Tröster. Aber ich gehörte zu denen, die sie bevorzugte. Sie steckte uns Aufgaben der Russischarbeiten zu. Und wir gaben sie der Klasse weiter.
    War das Freundlichkeit? Vielleicht sogar Zuneigung aus Einsamkeit? Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte sie auch nur, dass unsere Klasse ihretwegen gute Russischzensuren hatte. Damit sie als eine gute Pädagogin gelte. Und niemand auf die Idee käme, sie würde irgendwelche Schüler ermuntern, den Russischunterricht zu sabotieren. Außerdem roch sie nicht nach Parfüm, sondern, ich kann es nicht anders sagen, nach Frau.
     
    Bei Schmeicheleien, so hat es Tucholsky gesagt, empfiehlt es sich, immer drei Nummern gröber zu verfahren, als man es gerade noch für möglich hält. Die Speichelleckerei und Lobhudelei, die Diktatoren auf sich ziehen, liefert dafür glänzende Beispiele. Was haben sich Künstler in Hymnen, Kantaten, Gemälden, Büsten, Standbildern, Gedichten, Elogen, Erzählungen und Romanen, in Selbstverpflichtungen und Unterwürfigkeitsadressen nicht vor Hitler und Stalin erniedrigt, klein und schäbig gemacht.
    Das heißt nicht, dass in anderen Abhängigkeitsverhältnissen (sei's privaten, beruflichen, gesellschaftlichen) ein derartiger Byzantinismus nicht vorhanden wäre – man braucht sich nur Festschriften zu Firmenjubiläen, Geburtstagen und Gedenkfeiern anzusehen – in fast allen wird das Fett der Schmeichelei abgesondert, als wäre es das einzige Schmiermittel, das eine gesellschaftliche Maschinerie am reibungslosen Laufen hält. Aber nur in der Diktatur herrscht das Trostlose, die Ausweglosigkeit: Vor jeder Firma, vor jeder Universität, vor jeder Partei kann man notfalls die Flucht ergreifen, falls einem das Lügen und Heucheln zu viel wird – auch wenn man dadurch manchmal vom Regen in die Traufe kommt. In der totalitären Konstellation führen alle Wege nach Rom, man ist ihr ausweglos ausgeliefert.
    Der vom Totalitarismus Bedrückte flüchtet und rettet sich ins Private. In die

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