Auf der Flucht
Konnte er den Parfümgeruch der neuen Russischlehrerin auch nicht ausstehen? Konnte er sie aus anderen Gründen »nicht riechen«? War er als Studienrat und damit als Vertreter eines alten, zum Aussterben, ja zur Ausrottung bestimmten Schulsystems entschlossen, einen Kampf gegen die so genannten Neulehrer, die mit viel Ideologie und mit (seiner Meinung nach) wenig Kenntnissen in das von ihm vertretene Schulsystem implantiert wurden? Wollte er mit einem »Halt!« Widerstand bieten, da, wo er ihm nicht nur geboten schien, sondern auch aussichtsreich möglich? Oder war er einfach, obwohl er uns nie auch nur eine Spur von Sympathie zeigte, sondern uns immer freundlich-ruppig »objektiv« gegenüberstand, auf unserer Seite?
Jetzt jedenfalls stand Kersten uns bei. Er las zu Beginn der Stunde den Eintrag im Klassenbuch, unterrichtete uns dann, als wäre nichts geschehen, in sphärischer Trigonometrie, um am Ende der Stunde die Betroffenen aufzufordern, in der Klasse zu bleiben. Während die anderen in die Pause gingen, machte er uns deutlich, dass unser Verbleib an der Schule und damit unsere Zukunft auf dem Spiel stünde.
Sie oder ihr? Darum gehe es jetzt. Wenn wir der Eintragung ins Klassenbuch nicht inhaltlich entgegentreten könnten, und zwar geschlossen, würden wir von der Schule fliegen. Er sei verpflichtet, wegen der Schwere des Vorwurfs eine Schulkonferenz einzuberufen. Schließlich gehe es um »Sabotage«. Ein schwerer Vorwurf. Um »Sabotage des Russischunterrichts«. Ein noch schwerer wiegender Vorwurf. Aber, so Kersten, es gebe eine Möglichkeit. Wir müssten der Russischlehrerin auf gleiche Weise antworten. Wir müssten ihr gegenüber das gleiche Geschütz auffahren. Sie habe aus einer jungenhaften Rüpelei etwas politisch Kriminelles gemacht, Hochverrat sozusagen, also müssten auch wir unser Handeln politisch zu rechtfertigen suchen – als bewusste oder unbewusste Widerstandsleistung gegen die Lehrerin, der wir, im Gegenzug, ein politisches Vergehen unterstellen müssten.
Und so entwickelte unser Klassenlehrer im weißen Mantel mit uns ein strategisches Konzept gegen die Lehrerin; er entwickelte es wie eine physikalische Versuchsanordnung: »Das könnt ihr nur gewinnen, wenn ihr alle eisern einer Meinung bleibt«, erklärte er uns. »Und wenn wir die übrige Klasse dazu bringen, dass sie euretwegen, und um euch zu retten, auch eurer Meinung bleibt.« Er machte uns dann mit kühler Offenheit klar, dass das Ganze »eigentlich« ziemlich unfair gegenüber der Russischlehrerin sei, denn wir hätten uns tatsächlich schlecht aufgeführt. »Aber«, fuhr er fort, und dabei grinste er einen Augenblick lang verstohlen, »sie hat schließlich damit angefangen.« »Und«, sagte er, »einen solchen Eintrag macht man einfach nicht! Also, meine Herren, ihr oder sie!«
Ein paar Tage später gab es dann eine Konferenz im Lehrerzimmer, bei der nicht nur alle Lehrer und der Direktor, sondern auch der Schulrat, ein SED-Kreisfunktionär, FDJ-Vertreter und der Sekretär der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft anwesend waren. Bis dahin waren wir vom Unterricht suspendiert gewesen und hatten stundenlang gemeinsam unsere Aussagen geübt.
Jetzt also standen oder saßen wir am Nachmittag auf den leeren Korridoren der Schule herum, es roch nach Kreide, Turnklamotten und Angstschweiß. Wir warteten auf unseren Auftritt, die stalinistische Reifeprüfung, die darin bestand, eine Beschuldigung abzuwehren, die ebenso falsch war, wie es die Gegenbeschuldigung sein sollte. Doublespeak (Doppel-sprech).
Einer nach dem anderen wurde aufgerufen und ins Lehrerzimmer zitiert, wo die Lehrer und Vertreter des Staates über uns zu Gericht saßen – wegen eines Vorwurfs, der eigentlich nicht aus der Welt zu schaffen war.
Wir schafften es trotzdem. Nicht nur mit der Wahrheit, was immer die Wahrheit über einen tölpelhaften Streich pubertierender Flegel gegen eine schwache Lehrerin gewesen wäre. Sondern mit der höheren Wahrheit der Lüge.
»Warum haben Sie den Unterricht gestört? War das gegen die russische Sprache gerichtet?«
»Nein, nein, ganz im Gegenteil!«
»Wieso im Gegenteil?«
»Weil wir die russische Sprache über alles lieben und den Russischunterricht über alles schätzen – deshalb waren wir so enttäuscht, dass unsere Lehrerin diese Sprache nicht vermitteln konnte.« (Pause) »Oder nicht wollte!«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, vielleicht wollte sie durch die Art, wie sie uns unterrichtete, unsere Liebe
Weitere Kostenlose Bücher