Auf der Flucht
in den Westen geflohen, vorsichtshalber. Ich weiß es nicht. Den Plakatschänder hat man, soviel ich weiß, nicht aufgespürt. Wir hatten Glück.
In meinen letzten Schuljahren wurde Russisch nach und nach erste Fremdsprache. Die Texte, die ich auf Russisch zu lesen, zu verstehen und grammatikalisch zu erklären hatte, waren meist kurze Jahreszeiten-Gedichte von Puschkin und Tierfabeln von Iwan Krylow. Zu mehr reichte es leider nicht und die gewaltigen Reichtümer der russischen Literatur, ihre schmerzlich weise bis fanatisch besessene Menschenerkundung, ihre grandiose epische Breite, ihre mystischen wie realistischen Dimensionen habe ich zu meinem Bedauern nie im Original kennen gelernt.
Wir hatten jedenfalls damals keine guten Russischlehrer; entweder konnten sie kaum mehr Russisch als wir, oder sie sprachen zwar Russisch, waren dafür aber keine Pädagogen.
Irgendwann – es muss in der 11. Klasse, also mehr als ein Jahr vor dem Abitur gewesen sein – kam eine junge, zarte, blonde Lehrerin zu uns, die im Unterschied zu allen, die es bisher mit uns versucht hatten, Russisch so aussprach, dass wir es nicht verstanden. Es war einfach die richtige, die native Aussprache. Dafür sprach sie deutsch mit einem unverkennbar russischen Akzent, verwandelte Os in As, machte aus E ein Je und aus H, je nachdem, ein G oder ein CH- »Gellmuth« hieß ich oder »Chellmut«, und die Bezirkshauptstadt hieß »Galle« statt »Halle«. Die Lehrerin war leise, launisch und roch meistens stark nach einem betäubend süßen Parfüm, was für uns ungehobelte Rabauken, die wir, Raubtiere in der Manege, die auf jede Schwäche eines Lehrers warteten, um über ihn herzufallen, ein gefundenes Fressen war.
Betrat sie also, klein und schüchtern lächelnd zu Beginn der Stunde unsere Klasse, sagte »Smatritje!« (Schaut mal her!) und vermittelte den Eindruck, mit ihrem Lächeln um Gnade und Wohlwollen zu betteln, dann lehnten wir uns fläzig in unseren Stühlen zurück, die wir zu diesem Behuf mit Händen und Beinen von den Tischen schoben, hoben die Nasen erst schnuppernd, dann wie angeekelt in die Luft und sogen die schwer süßliche Parfümwolke ein, während sie leicht nervös durch den Gang zwischen den Bankreihen trippelte. Sie war, wie gesagt, klein und wirkte hilflos, während sie ihr Lächeln in einen trotzigen Flunsch verwandelte.
»Hilfe«, rief ein Schüler, nachdem sie an ihm vorübergegangen war, und schnupperte in die Luft. »Hilfe! Ich ersticke! Hilfe! Fenster auf!« Andere schlossen sich ihm an; sackten theatralisch zusammen, hielten sich die Nasen zu oder drehten den Kopf ostentativ von ihr weg. Einer schrie gar: »Ich halt's nicht mehr aus! Ich muss raus!«, und sie ließ sich mit ihm auf eine an ihrer schwachen Autorität zehrende Debatte darüber ein, ob er ohne ihre Erlaubnis die Klasse verlassen dürfe oder ob sie ihm die Erlaubnis erteilen müsse, wie er forderte, weil er durch die Schwere des ihr heute anhaftenden Parfümdufts in Ohnmacht zu sinken drohe, wenn er nicht sofort hinaus, wenn er nicht allsogleich an die frische Luft dürfe.
So verging ein guter Teil der Stunde, während wir immer mehr übertrieben und sie hilflos auf und ab schwirrte und vergeblich versuchte, den Unterricht abzuhalten. Ich weiß nicht, ob sie dabei nicht Tränen in den Augen hatte, aber ich glaube schon. Irgendwann setzte sie sich hinter ihr Lehrerpult, schlug das Klassenbuch auf, schrieb etwas hinein, wobei sie mit finster entschlossenem Blick vor sich hinstarrte und einen bösen Mund machte. Dann schlug sie das Klassenbuch zu, sagte zu uns, wir sollten einen bestimmten Abschnitt im Russisch-Buch für uns lesen – sie werde das nächste Mal überprüfen, ob wir es auch tatsächlich getan hätten – und verließ mit trotzig erhobenem Haupt die Klasse. Zurück blieb eine schwächer werdende Duftspur und das zugeschlagene Klassenbuch.
Wir gingen vor zum Pult und klappten das Buch auf. Da stand als Eintrag: »Feilhauer, Beiersdorf, Trümper, Karasek und Möbus sabotieren bewusst den Russischunterricht.« Erst nach und nach wurde uns klar, was da stand: Ein Urteil, das das Ende unserer Schulzeit bedeutete: Relegation. Wir würden, als Saboteure des Russischunterrichts, der Schule verwiesen werden. Mit weiteren, noch nicht absehbaren Konsequenzen.
Ich weiß nichts von den Motiven, die unseren Klassenlehrer Kersten damals bewogen haben, sich unserer Sache anzunehmen – und damit auch den Konflikt mit der neuen Zeit zu riskieren.
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