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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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meiner Cousine Edith, einem engen Schlauch mit Klappfenster in der abgeschrägten Dachwand. Sie war mit ihrem »Verlobten« – oder nannten ihre Eltern ihren Freund nur so – für ein paar Tage verreist. In ihrem Zimmer fand ich dicke Stapel abgelegter Zeitschriften, in denen ich auf Geschichten stieß, von deren Existenz ich nie vorher auch nur vom Hörensagen gewusst hatte. Es ging da um Fürsten, Prinzessinnen, Könige, Filmstars, Filmregisseure, um Filme wie »Schwarzwaldmädel«, um Orson Welles und um den »Dritten Mann«, um Hildegard Knef oder um Sonja Ziemann und um Königshäuser in Griechenland oder Ägypten. Und es ging um Filmstars aus der Nazizeit, um Zarah Leander, Marika Rökk, Willy Birgel oder Hans Söhnker. Es ging um Paula Wessely und Attila Hörbiger. Ich sah die Bilder, las die Geschichten und geriet in eine Welt, die mir schal und lächerlich vorkam. Das sind Sorgen!, dachte mein sozialistisch geprägtes Bewusstsein verächtlich.
    Ich war bereit, ohne die »Kritische Theorie« oder die »Dialektik der Aufklärung« zu kennen, ja ohne die Namen Th. W. Adorno und Max Horkheimer je gehört zu haben, mit marxistisch geprägter Verachtung auf diese Playboy-Kultur und deren Regenbogenpresse-Klatsch zu reagieren, denn schon der Vulgär-Marxismus, dem ich in der Zone ausgesetzt gewesen war, hatte mir beigebracht, dass diese Art von Bewusstseinsindustrie vom »falschen Leben« kündete, von der Tatsache, dass die verelendeten Massen durch Nachrichten aus einem derartigen Scheinleben von ihren eigentlichen Problemen, ihrem eigentlichen Leben abgelenkt werden sollten. Ich fühlte mich aber auch überlegen, begriff den Unterschied zwischen E- und U-Kultur, Hochkultur und flacher Unterhaltung, und wenn mir die deutsche Oberschule (auch in ihrer scheinbar marxistischen Ausprägung) etwas beigebracht hatte, dann war es der berechtigte oder auch unberechtigte Hochmut desjenigen, der Thomas Mann und Brecht liest und Goethe, Schiller und Shakespeare auf dem Theater sehen will.
    Als meine Cousine dann kam, entsprach sie so gar nicht dem Bild, das ich mir nach Einblicken in ihre Lektüre von ihr gemacht hatte. Sie war eine ungeheuer »praktische« und »nüchterne« Frau, die eisern Schwäbisch gelernt hatte, um den nötigen Lebenskampf nicht als »Reingeschmeckte«, sondern als Beteiligte aufzunehmen.
    Sie lebte mit ihrem Freund (oder Verlobten), der Franzi hieß, ein Jahr jünger als sie war und beim Daimler in Sindelfingen als Automechaniker am Fließband arbeitete, damals in so etwas wie vorehelichen Flitterwochen: Das heißt, ich habe sie die paar Tage, die ich mit ihnen in Stuttgart verbrachte, nur in einer Art zärtlichem Dauerclinch erlebt, sie küssten und herzten sich ohne Unterlass, schoben sich pausenlos wechselseitig ihre Zungen in den Hals, meiner Cousine verrutschte dauernd die Brille und schon hatte Franzi wieder seinen Mund an ihrem Mund. Aber auf mich, der mich sonst Zärtlichkeiten, an denen ich nicht beteiligt war, höllisch nervös machten, wirkten diese Versicherungen von Gemeinsamkeit irgendwie unendlich nüchtern, kalt und sachlich, so als würden sie nur ausgetauscht, weil es sich so gehört.
    Tatsächlich sprachen sie, wenn sie im Zärtlichzueinandersein innehielten, mit harter Sachlichkeit über Kosten und Zahlen: Sie mussten sich ihren Hausstand selber kaufen, Franzi war elternlos, Edith Flüchtlingskind; es gab weder Mitgift noch Aussteuer und der Flüchtlingsstatus meiner Cousine überspielte auch die Tatsache, dass sie, das Bürgermädchen (die fürchtete, bald ein spätes Mädchen zu werden, »keinen abzukriegen«) »hinunter« ins Proletariat heiratete. Meine Tante und mein Onkel mögen geschluckt haben, dass ihre einzige Tochter sich anschickte, einen Arbeiter zu heiraten, was ich an dem Überschwang merkte, mit dem sie seine Tüchtigkeit, seinen Charakter, seinen Fleiß rühmten: Er sei ja sooo ein fleißiger Kerl. Ihr Hochmut (der falsche Hochmut unserer Familie) hatte einen Knacks bekommen. Die Nachkriegsgesellschaft, jedenfalls in der Schicht der Vertriebenen, Ausgebombten, um ihre Ernährer gebrachten, war eben egalitär. Wenn sich meine Cousine auch mit Zeitschriften vergnügte, in denen sie durchs Schlüsselloch auf Hochgeborene und Filmstars in Luxus und Scheinwerferglanz blickte – die Renaissance einer Klassen- und Adelsgesellschaft fand erst sehr allmählich statt – das nötige Kapital für den Luxus musste erst im Wirtschaftswunder akkumuliert werden.
    Franzi

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