Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
ich kenne sie noch vom letzten Jahr – singt vor: „Magnificat anima mea“ und „Gloria in excelsis deus“. Ihre Stimme jubelt wie eine Lerche die Pfeiler empor in die himmelhohen Gewölbe und springt von Joch zu Joch. Hinter dem Altar stehen acht Priester: ein Japaner, ein Franzose, ein Deutscher, ein Italiener, ein Engländer und ein Ire, die uns in ihrer eigenen Sprache begrüßen. Halb Europa sitzt hier erwartungsvoll in dieser heiligen Halle. Der Priester aus Santiago liest vor, wieviele Pilger gestern angekommen sind, um heute die Messe zu feiern: 11 aus Sevilla und 40 aus Deutschland, 15 aus Frankreich und 9 aus Holland, 3 aus Belgien und 2 aus Brasilien. „Lobet den Herrn“ wird auf Deutsch gesungen.
Nach der Weihe des Allerheiligsten, nachdem Wein zu Blut und Brot zu Fleisch geworden sind und die Hostie in dem goldenen Kelch in die Höhe gehoben worden ist, reichen sich alle die Hände: „Pax vobiscum“ – der Friede sei mit Euch – und wildfremde Menschen neben und hinter und vor mir reichen mir ihre Hände und drücken sie warm und innig. Ich wollte eigentlich nicht zur Kommunion gehen, nun gehe ich doch und empfange unter Tränen den Heiligen Leib Christi. Santiago nimmt mich auf!
Mittags treffe ich Patricia wieder, die Französin von gestern abend. Ich sitze in der Casa Camilo und da kommt sie so einfach vorbei, rein zufällig, oder schickt sie Santiago, der meinen Schmerz lindern will? Wir essen zusammen Austern und Venusmuscheln und plaudern bis um vier. Wenigstens ein Mensch, mit dem ich reden kann in meinem Alleinsein. Wir verabreden uns für Montag in Finisterre.
Warum gefällt mir Santiago diesmal nicht? Zweimal war ich hier, einmal mit Georg im Jahr 2000 und einmal allein im letzten Jahr 2005. Ich war so begeistert und enthusiastisch. Die Stadt war warm und heiter und voller Musik und jubelnder Menschen. Diesmal ist sie kühl und grau und unfreundlich und voller Touristen. Ist es das, meine Schmerzen oder nur meine Müdigkeit? Oder bin ich von der Heiterkeit des Südens so verwöhnt? Es fehlt auch die Musik, die sonst an allen Ecken erscholl, die Gaitamusik unter dem Bogen neben der Kathedrale, das Violinenspiel unter den Arkaden, der Gitarrenspieler auf der Plaza Quintana. Weg, weg, vorbei.
Ich freue mich morgen aufs Meer. Hier habe ich nichts mehr verloren. Wäre ich gesund, würde ich noch einmal drei Tage wandern. Heute Nachmittag, nach dem Essen mit Patricia, konnte ich für eine Viertelstunde ohne Schmerzen gehen. Es war wundervoll. Wie fliegen. War es das erste Zeichen einer Besserung? Tut mir Santiago gut oder der Wein oder die lustige Patricia? Ich friere. Es ist höchstens 20 Grad. Hier auf der Plaza Quintana weht es erbärmlich. Es ist schon gespenstisch, auf einem Platz mit 200 Tischen und Stühlen allein zu sitzen, samstagabends um halb acht. Noch vor zwei Tagen saß ich in Ourense im warmen südlichen Abend unter heiterem Leben, hier sind nur gelangweilte Kunsttouristen. Ich glaube, ich habe Heimweh.
Und doch zieht es mich wieder auf meine geliebte, kleine Plaza vor der Casa Camilo. Zu meiner Überraschung kommen, ebenso zufällig wie gestern Patricia, die beiden Franzosen aus Montpellier, Hans und Annique vorbei. Ist das eine Freude! Wir umarmen uns herzlich. Wir sahen uns ja zuletzt in Cáceres, und ich dachte, es sei ein letztes Mal. Aber der Mensch denkt und Jakob lenkt. Er wollte uns wieder zusammenführen. Wir sind die Figuren auf seinem Schachbrett und er denkt die Züge. Ich lade sie an meinen Tisch, wir erzählen uns, wie es uns ergangen ist seit Cáceres. Santiago zieht doch immer wieder die Fäden, er kennt das Spiel, er sieht es von oben, von seiner himmlischen Warte. Er sieht die Schachfiguren, er zieht die Züge. Wenn er will, daß seine Kinder zusammen kommen, dann schiebt er den Bauern zum Turm, den König zur Königin, die Pilger auf den einen Weg, daß sie zusammenstoßen in seiner Stadt für ein paar Stunden nur, für ein kurzes Essen neben seiner Kathedrale.
Wir essen schön und gemütlich zusammen am kleinen weißen Tisch, frische Austern vom Meer, dazu Albirinho, den feinen galicischen Wein vom Duero, und den funkelnden, goldbraunen Brandy, und werden des Erzählens nicht müde bis um halb zwölf. Ich verspreche ihnen, sie im nächsten Jahr auf meiner Via Tolosana zu besuchen, führt doch mein Pilgerweg direkt durch Montpellier. Und so geschah es auch im nächsten Jahr, ich wohnte zwei Tage bei ihnen und sie zeigten mir ihre schöne Stadt. Wir
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