Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
Nachbarin ins Gespräch, erst über zwei Tische, dann lädt sie mich zu sich an ihren Tisch. Patricia aus Bordeaux, angekommen vom Jakobsweg, auch kaputte Füße. Wir trösten uns, heitern uns auf, sie ist süß, lieb, eine Französin. Ich bin so müde, daß ich unsere Sprachen nicht mehr auseinander halten kann. Sie will Montag nach Fisterra fahren, ich auch. So werden wir uns vielleicht wiedersehen. Ob ich möchte? Ja, ich möchte! Der Heimweg ist grauenvoll unter Schmerzen.
In der Pilgermesse
Samstag, der 24. Juni, Santiago de Compostela
Ruhetag
Heute werde ich aber meinen Jakob besuchen. Ich stehe erst um neun Uhr auf, ich muß ja nun nicht mehr wandern. Neugierig beobachte ich von meinem Bett die anderen Pilger, die schon wieder früh aufbrechen, die Rucksäcke packen, die meisten werden wohl heimfahren in ihre verschiedenen Länder, hier in Santiago ist ihrer aller Weg zu Ende, sie haben ihr Ziel erreicht. Einige werden aber wohl noch weiter gehen, nach Finisterre, zum „Ende der Welt“, so wie sie früher auch noch dahin wanderten, wo die Welt der Alten zu Ende war und auch die letzten Pilger ihren Weg beendeten, dort an den felsigen Ufern des Atlantik, wo Jakobus vor 2000 Jahren angekommen war, gesteuert von seinen beiden Jüngern und behütet und gelenkt von der Macht der Engel. Ich habe das alles schon hinter mir, ich habe diese letzte Reise ja schon zweimal gemacht. So drehe ich mich noch einmal schläfrig und warm auf die andere Seite und lasse die jungen Leute ziehen in ihre Heimat oder an die Felsen des Atlantik.
Um zwölf Uhr ist Pilgermesse in der großen Kathedrale. Eine halbe Stunde vor elf bin ich schon angekommen, reihe mich geduldig in die endlose Schlange der Wartenden um den hohen Chor der Kirche, die geduldig und schwatzend Fuß um Fuß vorrücken und die steinernen Satuen umkreisen. Sie sind neugierig, ungeduldig, sie warten auf das große Erlebnis, endlich auch die steile Stiege emporzuklimmen und hoch über dem Altar die kleine, silberne Statue zu berühren, wegen der sie den langen Weg gemacht haben, 100 Kilometer die einen, 800 Kilometer die anderen, einige wenige 3000 Kilometer von ihrem Heimatort im fernen Europa.
Ich umarme den kleinen, kalten, glatten Rücken lange und zärtlich und küsse dann innig das blankpolierte Haupt zwischen den blitzenden Juwelen. Ich bin traurig, nicht fröhlich, nicht ausgelassen und heiter wie ich es die ersten beiden Male war. Ich komme ja als ein Geschlagener, Zerstörter, Gequälter. Ich habe mein Ziel nicht erreicht.
Ich bin zwar körperlich hier, aber innerlich in meinem Herzen ist etwas zerrissen, etwas zerdrückt. Ein Schmerz erdolcht mein Herz. Jakob, Jakob, warum hast Du mich verlassen? Das Böse hat mich besiegt und Du konntest mir nicht helfen. Ich bin in Deine Kirche gekrochen als ein Schmerzensmann, an Krücken. Und dann, in der Krypta, knieend vor seinem Grab, bricht es aus mir heraus, meine Schultern schütteln sich vor schmerzhaften Tränen, ich presse alles heraus, die lang angestaute Enttäuschung, die ertragenen Schmerzen, die unerfüllte Liebe, all meine enttäuschte Sehnsucht, mein ganzes Alleinsein. Ich habe keine Freude in mir, nur Traurigkeit, Verbitterung, Zorn. Die Tränen schwemmen die Traurigkeit langsam hinweg, mein Körper wird leer, geduldig, mein Kampf ist vorbei. 800 Kilometer Anstrengungen, Schmerzen, Leid fließen aus mir heraus. Zweimal kam ich als Triumphierender, diesmal als Geschlagener.
Aber Santiago nimmt mich auch so an. Er, der Gütige, der Verzeihende seit 1200 Jahren in seinem kühlen Marmorgrab, der die Verzweiflung Europas sah, das Leid der Millionen, die zu ihm kamen, er nimmt auch mich in sein Herz, wie all die anderen Geschlagenen vor mir. Im letzten Jahr zog ich ein in der Schar der Jubelnden, jetzt gehöre ich zu der Schar der Schmerzensreichen. Ich bin jetzt nur noch Traurigkeit und Schmerz und Müdigkeit. Ich bin leer und verbraucht und ausgelaufen. Eine Hülle nur, deren Seele in den Wäldern und Wüsten geblieben ist. Ich bin so grenzenlos allein in der großen Kirche. Als einzigen treffe ich den Ostberliner auf einen Händedruck.
Um zwölf zur Pilgermesse in der ernsten, gewaltigen Kathedrale Meister Matteus, drängen sich Tausende von Pilgern, Touristen und Besucher auf den harten Holzbänken, sitzen auf den steinernen Fußplatten, ihre staubigen Rucksäcke neben sich stehend, die Wanderstöcke an die Bündelpfeiler gelehnt. Eine kleine Schwester mit klarer, reiner, heller Stimme –
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