Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
gefühlt. Es war wohl, daß ich diesmal nicht so offen war, meine Schmerzen hatten mich so verkrampft, daß ich die Stadt nicht so annehmen konnte wie zuvor. Und deshalb hat die Stadt sich auch mir nicht so geöffnet wie beim ersten Mal und das Jahr danach. Diesmal bin ich froh, daß ich die Stadt verlassen kann. Ich werde auch bei meiner Rückkehr morgen gleich vom Busbahnhof den Airportbus nehmen, der mich zum Flughafen bringt. Ich weiß, mein Heiliger versteht mich. Er hat mich ja hierher geleitet und meinen verzweifelten Kampf gegen meine Schmerzen miterlebt. Ich bin für ihn doch nur einer unter den Millionen, die auch den Weg unter Schmerzen beendet haben und dennoch von ihm verzeihend und vergebend in die Arme genommen wurden. Wir Menschen sind so klein in unserem Elend, und wie großmütig muß ein Heiliger sein, der seit 2000 Jahren weit über allem Erdenleid thront.
Am Busbahnhof stürzt mir schon voller Freude Patricia entgegen. Wir haben den gleichen Bus genommen, mit uns noch eine Menge anderer Rucksacktouristen, die ans Meer und zum Cap Fisterra wollen. Wir quetschen uns alle in den Bus, jetzt bin ich auf einmal nicht mehr allein unter Fremden. Patricia sitzt warm und fröhlich neben mir, und wir erzählen aus unserem Leben und von unseren Wanderungen.
Ich erlebe vom Bus den Weg, den ich mit Georg im Juni 2000 ging, ich suche die Punkte, wo unser Wanderweg die Straße kreuzte: noch einmal Negreira, wo wir aus der Turnhalle ins Hotel flüchteten, Corcubión, wo wir im feinen Hotel hoch über der Bucht unsere Jakobsmuschel aßen, die heute noch in meinem Bad liegt, die Sandbucht von Sardineiro, wo wir am Meer unser Frühstück einnahmen, den Punkt an der Landspitze, wo zum ersten Mal Fisterra sich über dem Wasser fern am Ende der Bucht entfaltete, tief unter uns heute der weite Strand, auf dem wir damals mit unseren Wanderschuhen auf dem harten Sand auf Fisterra zugingen. Der Ort hat sich etwas zugebaut in den sechs Jahren, zahlreiche Hotelchen sind dazugekommen, die Zeit steht nicht still wie in meiner Erinnerung, der leere Strand ist voll gestellt mit properen, modernen Hotels.
In Fisterra nehmen wir beide das gleiche Hotel, in dem ich im letzten Jahr wohnte, Patricia ist glücklich, ein großes gepflegtes Zimmer für den halben Preis zu bekommen, ich allerdings auch, Pilgern bedeutet teilen und teilnehmen. Wie froh bin ich, Fisterra ist der gleiche, stille, ruhige, kleine Hafenort geblieben, den ich in Erinnerung habe, eine moderne Fischhalle am Hafen aus Glas und Aluminium ist dazu gekommen, die Schiffchen dümpeln weiß und rot und blau wie immer im Wasser, die Möwen kurven und schreien, die Sonne scheint, es riecht nach Meer und Salz und Jod und Tang.
Wir setzen uns auf die sonnige Terrasse über dem Hafen, gegenüber über den blauen Wassern der Bucht von Corcubión die weißen Fleckchen der kleinen Fischerorte, O Pindo, Caldebarcos und Carnota, dahinter im Dunst verschwimmend Hügel hinter Hügel die Küstengebirge Galiciens, auf denen fern im Landesinneren die Nebel lasten. Doch uns lacht hier die Sonne, wir essen Pimientos, einen Teller mit riesigen Mejillones und trinken den üblichen Ribeiro. Ich habe die unfreundliche graue Stadt vergessen, fern hinter den Nebeln, meine Welt ist wieder in Ordnung, Santiago hat mich wieder richtig geführt, wir scherzen und lachen. Es tut gut, nicht so ganz allein zu sein. Meer macht glücklich.
Am Nachmittag liege ich im Sand der kleinen Bucht unter der alten Zitadelle, lasse den warmen Sand durch meine Hände rieseln, wie die Kinder, die um mich herumtollen und von der Mauer ins Wasser springen, stehe bis zu den Knien im eiskalten Wasser. Mein schlimmer Fuß genießt die Kühle des Wassers und die wärmenden Strahlen der Sonne. Meine Seele auch.
Ein tiefes Glück überkommt mich, daß ich noch einmal heute auf dieser Abendterrasse sitzen darf, unter mir die strahlend blauweißroten Bötchen auf dem tintenblauen Wasser. Golden das Abendlicht auf dem gegenüberliegenden Ufer der Bucht. Der Himmel zerläuft in einer Collage aus Pfirsich über Orange zu Türkis und eisblauem Dämmern. So oft schon gesehen, ewig gleich, und doch ist dieser Blick höchstes Meeresglück. Dreimal war ich an diesem Ort, wird es das letzte Mal sein? Ein Teil meines Wesens zieht mich nach Hause, der erdige Teil, das Heimweh, der andere möchte jeden Tag weiter ziehen diese Küste hinab von Ort zu Ort, von Bucht zu Bucht, sitzen und träumen an diesem Archipel aus Luft,
Weitere Kostenlose Bücher