Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
wurde aus Leidenschaft Sucht. Nun wollte ich den großen Weg machen, den längsten, 1000 Kilometer aus dem Süden Spaniens bis in den höchsten Norden, die Via de la Plata – die Silberstraße – aus den Apfelsinenplantagen und Olivengärten Andalusiens durch die unendlichen, menschenleeren Einsamkeiten der Meseta Extremaduras und Kastiliens, die „extreme Härte“ und die wasserlose, sonnenverbrannte Wüstensteppe, von den schneeweißen maurischen Städten durch die mittelalterlichen Gassen und Plätze mit ihren verschlossenen, honiggelben Palästen der großen vergangenen Geschlechter zu den verlassenen, verfallenen Dörfchen Galiciens, wo keiner mehr wohnt in den einst prächtigen Mauern, durch die nur noch der Wind zieht und der Regen.
Von dieser meiner letzten, großen Pilgerreise berichtet dieses Buch.
Ultreia!
Teil 1
Das Land der Mauren
Durch Andalusien
Ultreia!
Et sus eia!
Deus adjuva nos!
Auf, auf!
Laßt uns weitergehen!
Gott helfe uns!
(Mittelalterliches Pilgerlied)
Die Stadt der Kalifen
Donnerstag, der 6. Mai 2006
Sevilla
Still und voller Erwartung öffne ich die schwere, dunkle Holztür an der Kathedrale von Sevilla. Jetzt, um neun Uhr morgens, ist um diese Zeit noch kaum jemand unterwegs. Als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt haben, bleibe ich erst einmal stumm und überwältigt stehen. In bin in einen Wald von steinernen Säulen eingetreten, die sich irgendwo da oben im düsteren Halbdunkel über mir verlieren. Nie sah ich Gewaltigeres. Nicht ein gotischer Dom ist das, wie ich viele kenne, mit hohem Mittelschiff und niederen Seitenschiffen, dies hier ist eine gewaltige, unermeßliche Halle. Pfeilerbündel, so dick wie Urwaldbäume, recken sich in die Höhe, die Fialen schießen von den Pfeilern wie wild gewordene Ranken in ein mystisches Halbdunkel und verlieren sich miteinander verklammert zu einem Netz von steinernen Zweigen.
Es ist die dumpfe Stille einer noch schweigenden Erwartung, still und kalt und noch ohne Inhalt. Erst später wird eine große Menge kommen und die Leere mit ihrem Brodeln füllen. Die Kathedrale von Sevilla ist die drittgrößte Kirche der Christenheit nach dem Petersdom in Rom und St. Pauls in London. Der Cabildo de Canónigos soll, als das Kathedralkapitel 1401 äußerte, eine Kirche bauen zu wollen, gesagt haben: „... solchen Ausmaßes, daß uns die Nachwelt für verrückt erklärt.“ Die Kathedrale entstand auf der Stelle der almahadischen Moschee, von der nach der Eroberung Sevillas im Jahr 1248 durch das Heer des kastilischen Königs Ferdinand nur das Minarett stehen blieb. Die Eroberer mußten ja alles dem Erdboden gleich machen zu jener Zeit, im Rausch der Überlegenheit der christlichen Sieger über die verhaßten Mauren, die das Land seit 711 im Griff hatten. Der riesige Grundriß der Kathedrale rührt also immer noch von den gewaltigen Maßen der zerstörten Moschee her, auch der Orangenhof – der Patio de las Naranjas – erinnert neben dem Turm – dem ehemaligen Minarett – an die großartige Vergangenheit der islamischen Mezquita. So baut die eine große Kultur auf der anderen vergangenen auf, ihre eigene Größe durch deren Größe zu verdoppeln. So war es immer rings um das Mittelmeer, was in Ägypten begann wurde an Griechenland weitergegeben, von den Römern fortgeführt, von den Arabern übernommen, um nun im gewaltigen Christentum alle zu übertrumpfen.
Zu dieser frühen Stunde ist noch kaum jemand in der Kathedrale. Ergriffen von so viel gebauter Macht und Größe schreite ich durch das mystische Halbdunkel. Kaum erkenne ich die Seitenaltäre, noch ist alles unbeleuchtet, auch die Türen zu den Museumsräumen der Sakristeien und der Kapitelsäle mit ihren Sehenswürdigkeiten sind noch verschlossen. Ich hatte eine gute Zeit gewählt, zwei Stunden später sollte es hier wie auf einem Rummelplatz zugehen.
Aus dem Zentrum des Riesenraumes zieht mich ein leises, melodisches Geraune an. Hier steht der Chor im großen Raum der gewaltigen Kathedrale, eine Kirche in einer Kirche, abgeschottet von Mauern aus schneeweißem, glatt polierten Marmor, überladen mit den Ornamenten des spanischen Barock, Nischen, Säulen, Engel, Heilige, Sarkophage, und all die überbordende Sinneslust spanischer Frömmigkeit. So war es früher in allen gotischen Kathedralen, der Chor der Priester und Mönche war durch Mauern und Gitter von dem Laienchor getrennt, daß sich nicht Heiliges mit Profanem mische. Im Inneren des Halbrundes formen
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