Auf der Sonnenseite - Roman
Anhänger mehr durch Emotionen als durch neue Ideen überzeugte. Fanatiker jedoch, egal welcher Couleur, hatten ihm noch nie gelegen. Dennoch: Hier war ein schlimmes Verbrechen geschehen, ein Verbrechen, an dessen Folgen das Opfer, die »Stimme der Studenten«, elf Jahre später, am Heiligabend 79, sterben sollte, das aber zu jener Zeit von vielen sich für staatstragend haltenden Biedermännern ohne jede Scham mit Beifall aufgenommen worden war. Weshalb er die Empörung der Demonstranten gut verstehen konnte – er war ja selbst empört –, ihre gewalttätigen Aktionen hingegen gefielen ihm nicht.
Und ihre Heiligenbilder? Über die konnte er, auf seiner Couch liegend und sich den Knöchel kühlend, nur verwundert den Kopf schütteln. Wen warfen die denn alles in einen Topf? Mao und Rosa Luxemburg? Wussten die Bilderschwenker denn überhaupt etwas über Mao? Oder kannten sie nur jene kleine, rote Mao-Bibel , diese platte Sprüchesammlung des großen Steuermanns, die sich ausgerechnet unter der westlichen Studentenschaft so großer Beliebtheit erfreute? Wenn Mao, dann hätten sie auch gleich ein Stalin-Konterfei mit sich führen können.
Es gab viele Spinner unter den Protestlern. Doch war das in einer Massenbewegung kaum zu vermeiden. Nur schade, dass stets sie es waren, über die in den bürgerlichen Medien am meisten berichtet wurde.
Mitte der Siebzigerjahre – Hannah und Manfred Lenz fühlten sich gerade erst richtig angekommen in ihrer neuen Heimat, hatten sich gänzlich neu eingerichtet, ihre Kredite abgezahlt und die ersten Urlaubsreisen unternommen – war jene Protestbewegung längst gespalten. Die einen hatten sich zum Langen Marsch durch die Institutionen aufgemacht, weil sie glaubten, auf friedliche Weise in ihrem Land etwas verändern zu können, ein militanter Kern jedoch war der unumstößlichen Meinung, dass diese Gesellschaft nicht mehr zu reformieren war, erklärte dem Staat den Krieg und schreckte vor keiner noch so menschenverachtenden Gewalttat zurück. Stadtguerilla wollten sie sein, die Verfechter der Unversöhnlichkeit, ihr bewaffneter Kampf erschien ihnen nur allzu berechtigt.
Für Lenz war nicht nachzuvollziehen, was in den Köpfen dieser »Freiheitskämpfer« vorging. Morden als politisches Kampfmittel? Die »bessere Welt« herbeischießen? Bankräubereien, um den Kampf für die »Unterdrückten dieser Erde« zu finanzieren? Also mit mittelalterlichen Methoden die Zukunft gewinnen? So etwas konnten sich doch nur Verwirrte oder Verzweifelte auf ihre Fahnen schreiben; Robin Hood war schon lange tot. Außerdem hatte zu keiner Zeit der »gute Zweck« ungute Mittel geheiligt. Was waren das nur für Menschen, die da im wahrsten Sinne des Wortes mit aller Gewalt den »Krieg des Volkes« gegen den »Staat« erzwingen wollten? Was für ein Bild machten sie sich von ihrem Land und seiner Bevölkerung?
Ob er mit Hannah, Silke und Micha am kristallklaren Wolfgangsee lag, ob sie zu viert durch den Taunus wanderten oder Hannah und er mit einem abendlichen Glas Wein ihr »Balkonien« genossen, richtig friedlich war ihm nie zumute. Dieser »Krieg« der wenigen gegen einen ganzen Staat ließ ihn nicht los.
Nein, die Bundesrepublik war kein in allem sauberer Staat, doch wo gab es den? Fakt war, dass es den meisten Bundesbürgern nicht schlecht ging. Ihr Staat war einer der reichsten, sozialsten und freiheitlichsten der Welt. Er war verbesserungswürdig, sehr verbesserungswürdig, vor allem was den Umgang mit der eigenen Vergangenheit betraf, doch hatte sich bisher noch jede Gesellschaft nur widerwillig selbst reformiert. Jeder Fortschritt eine Sisyphos-Arbeit, davon war er überzeugt; wer sich was anderes erhoffte, wer glaubte, den Leuten Einsichten und Erkenntnisse mit Gewalt in ihre Köpfe hämmern zu können, den konnte er nicht ernst nehmen. – Eine »Revolution«, wie die Gewalttäter sie herbeireden und herbeibomben wollten, ohne jede revolutionäre Stimmung im Lande? Wie sollte das denn möglich sein? Sie lebten nicht im Jahr 1848, als es erstmals darum ging, einen Hauch von Demokratie durchzusetzen, und nicht 1918, als mit dem Ersten Weltkrieg Schluss gemacht werden musste. Noch nie hatten sich einigermaßen satte und mit ihrem Leben nicht unzufriedene Bürger zu einer Revolution hinreißen lassen. Wozu denn auch?
Die RAF – Rote Armee Fraktion –, wie sich die radikalste der Terroristengruppen selbst benannt hatte, erhob den Anspruch, ihre gegen den Unterdrückungsapparat gerichteten
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