Auf der Sonnenseite - Roman
verfestigte.
Lenz, als er während der Rückkehr von einer Dienstreise im Flieger von diesem unnötigen Tod las, ließ erschüttert die Zeitung sinken. Wohin dieser »Krieg« wohl noch führen würde! Eine neue Gewaltwelle war zu befürchten. Jener Opfertod, was sollte er denn anderes sein als eine Botschaft, gerichtet an die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland: Nun könnt ihr mal sehen, in was für einem mörderischen Staat ihr lebt! – Dabei war es doch ganz eindeutig ein Selbstmord. Wer mit solch selbstzerstörerischen Waffen kämpfte, hatte die tödlichen Folgen doch eingeplant; die RAF-Leute waren viel zu klug, um diesen Tod nicht einkalkuliert zu haben.
»Das wird wieder viele an ihre Seite bringen«, sagte Hannah gleich nach der Begrüßung. »Das wird alles noch verschärfen.«
Ja, dieser »Krieg« raste auf ein schreckliches Immer-weiter-so zu; mit tröstenden Worten konnte er Hannah ihre Sorgen nicht nehmen.
Vier Monate nach diesem Selbstmord eine erneute Hiobsbotschaft: Die »Bewegung 2. Juni«, benannt nach dem Todestag des beim Schah-Besuch in WestBerlin erschossenen Studenten Benno Ohnesorg, ein eher anarchistisch strukturiertes Konkurrenzunternehmen zur RAF, hatte den Präsidenten des WestBerliner Abgeordnetenhauses entführt und in ein »Volksgefängnis« gesperrt; einen dumpfen, kalten Berliner Hauskeller, wie Lenz ihn aus seiner Kindheit kannte. Ziel dieser Aktion war, fünf Gesinnungsgenossen aus der Haft freizupressen. Was dann schließlich auch gelang. Nach sechs Tagen wurde der Gefangene, das CDU-Mitglied Peter Lorenz, im Austausch gegen jene fünf in den Jemen ausgeflogene Terroristen freigelassen.
Ein Erfolg für die Terrorszene? Eher eine Niederlage, wie Lenz es sah, obwohl viele seiner Willgruber & Dietz -Kollegen befürchteten, dass dieses Beispiel Schule machen könnte. Immerhin wurde, während Lorenz im »Volksgefängnis« saß, seine Partei zum ersten Mal stärkste politische Kraft WestBerlins. »Eine prompte Reaktion der WestBerliner, ein Abdriften ganzer Wählerscharen in eine Richtung, die unseren ›Volksbefreiern‹ kaum gefallen dürfte«, so Lenz. »Erfolge sehen anders aus.«
Dennoch lagen seine Kollegen mit ihrer Sorge nicht falsch. Nur wenige Wochen später stürmten mehrere RAF-Leute die deutsche Botschaft in Stockholm, um nun ihrerseits sechsundzwanzig Gesinnungsgenossen freizupressen. Dank ihrer Zellen-Fernseher hatte die RAF-Spitze die Lorenz-Entführung mitverfolgen können; das Konkurrenzunternehmen, das nur an die eigenen Leute gedacht, aber kein einziges RAF-Mitglied freigepresst hatte, sollte noch übertroffen werden.
Mit Handgranaten und Dynamit verschanzte man sich in dem Gebäude, ermordete den Militärattaché und nahm elf Geiseln, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Die Bundesregierung jedoch blieb hart: Keine Verhandlungen, keine Freilassungen, kein weiterer Präzedenzfall; die Lorenz-Entführung durfte nicht Schule machen.
Das RAF-Kommando erschoss auch den Wirtschaftsattaché und drohte, zu jeder vollen Stunde einen weiteren Botschaftsangehörigen umzubringen – ergebnislos! Dann, das nächste Opfer war schon benannt, explodierten kurz vor Mitternacht versehentlich die von der RAF im Gebäude angebrachten Sprengladungen. Die Geiseln konnten fliehen, einer der Terroristen starb noch in der Botschaft, ein schwerverletzter Gesinnungsgenosse, der zusammen mit den übrigen RAF-Mitgliedern festgenommen und nach Hamburg ausgeflogen wurde, erlag dort seinen Verletzungen.
Kein gutes Ende, doch hätte alles noch viel schlimmer kommen können. Und das – in diesem Punkt waren Lenz und seine Kollegen sich einig – war das Allerschlimmste daran: dass alles immer noch viel schlimmer kommen konnte.
Die meisten seiner Nachbarn, Bekannten und Kollegen, so Lenz’ Eindruck, hatten die Geschehnisse in Berlin und Stockholm eher mit Befremden verfolgt, hatte es doch mit ihrer Wirklichkeit nur wenig zu tun. Wovon wollten diese Spinner sie denn »befreien«? Der Sommer stand vor der Tür, die Ferienreise war gebucht; diese RAF-Idioten sollten endlich Ruhe geben!
Einen Monat nach Stockholm neue Fernsehbilder: Der Stammheimer Prozess; die führenden Köpfen der RAF auf der Anklagebank; in einer eigens für diese Verhandlung gebauten, hubschrauberüberwachten und von hohen Betonmauern umgebenen Mehrzweckhalle gleich neben dem Gefängnis. – Was für eine protzige Inszenierung! Gegeben wurde das Stück Der Staat und seine Feinde . Keiner bei Willgruber &
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