Auf der Sonnenseite - Roman
als der Krieg zu Ende war und ihre Pflegeeltern herausgefunden hatten, dass ihre Eltern und ihre gesamte Familie, alle Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, in deutschen Lagern ums Leben gekommen waren und mit ihnen weitere sechs Millionen europäische Juden, da schrak sie aus diesen Träumen auf. Der Tag, an dem ihre Pflegeeltern, zu denen sie im Lauf der Zeit eine tiefe Zuneigung gefasst hatte, ihr diese Nachricht nicht mehr vorenthalten wollten, wurde zum Katastrophentag im Leben der damals Zwanzigjährigen. Innerhalb weniger Minuten schwanden all ihre Hoffnungen auf ein Wiedersehen mit ihren Eltern.
Anfangs wollte sie das alles gar nicht glauben, obwohl sie sofort wusste, dass sie nicht belogen wurde. Was hätte eine solche Lüge denn für einen Sinn haben sollen? Als sie sich die unwiderlegbare Tatsache dann endlich eingestanden hatte, erstarben alle farbigen Kindheitserinnerungen in ihr. Sie konnte sich ihre frühere Heimat nur noch als sehr dunklen, trüben Schwarz-Weiß-Film in Erinnerung rufen. Nichts leuchtete mehr, jedes zuvor nostalgiegetränkte, sicher sehr geschönte Bild, im Nachhinein wurde es zur Qual. Dachte sie an die Berliner Kinder, mit denen sie einst gespielt hatte, sagte sie sich, dass sie die Kinder von Mördern oder inzwischen sogar selbst zu Mördern geworden waren. Nie wieder wollte sie Deutsch sprechen und überhaupt mit diesem ganzen furchtbaren Deutschland nichts mehr zu tun haben. Und so warf sie das Heidi -Buch eines Tages in den Müll. Und sah sie Elsa an, ihre Elsa, die noch immer im Regal über ihrem Bett saß, musste sie weinen.
Elsa, so sagte es ihr Gefühl, hatte das gleiche Schicksal erlitten.
Was für eine Geschichte! Wie sollte Lenz darauf reagieren? Sollte er etwa »Tut mir ja alles so leid!« sagen und ein mitfühlendes Gesicht machen? Hilde Friedländer hatte mit ganz normaler, fast sachlich-ruhiger Stimme erzählt. Sie hatte ihn nicht angeklagt, hatte nur berichtet. Er aber, dagegen konnte er gar nichts tun, fühlte sich ihr gegenüber wie auf einer Anklagebank.
Sie sah ihm an, wie ihm zumute war, und fragte, ob er Lust auf einen Spaziergang am Meer hätte. Und ja, er hatte Lust darauf, große Lust auf diese Ablenkung. Ein wenig Bewegung und frischer Wind im Gesicht, das war es, was er jetzt brauchte.
In Hilde Friedländers kleinem Wagen fuhren sie zur Mornington-Halbinsel, spazierten in Richtung Rosebud am Strand entlang, und er sah auf das im Nachmittagssonnenschein strahlend blaue Meer hinaus, noch immer diese Geschichte im Ohr, die ihm nun so unwirklich erschien, hier in diesem Sonnenparadies. Wie konnte es denn sein, dass Menschen nicht das wahre Leben liebten und genossen, all die Schönheit und Vielfalt der Welt, sondern ihr ganzes Denken, ihre ganze Kreativität mörderisch dumpfen Ideologien unterordneten?
Auch Hilde Friedländer schwieg. Fast so, als wollte sie ihm Zeit lassen, ihre Geschichte zu verdauen. Bis sie ihn irgendwann leise fragte, ob eigentlich ihre alte Schule noch stehe. Im Krieg sei ja so viel zerstört worden.
Er gestand ihr, ihre Charlottenburger Schule nicht zu kennen und nicht zu wissen, ob sie den Krieg überlebt habe. »Berlin ist ja so groß«, entschuldigte er sich, »und ich bin in OstBerlin aufgewachsen und wohne zurzeit im Rhein-Main-Gebiet. Zwar kenne ich auch Charlottenburg ganz gut, doch natürlich nicht jede Straße, jede Schule.«
Da flog mit einem Mal so etwas wie Stolz über ihr Gesicht. »Ja, groß war Berlin immer schon! Und so grün. Und es gibt so viele schöne Seen in der Umgebung.«
Hatte sie für einen Moment vergessen, was ihr angetan worden war? Waren da plötzlich doch wieder so etwas wie »farbige« Erinnerungen in ihr hochgestiegen?
Er wagte nicht zu fragen. Sie aber, ihre Augen träumerisch dem Meer zugewandt, erinnerte sich nun vieler Straßennamen und auch daran, wie der Fleischer, der Bäcker und der Lebensmittelhändler hießen, zu denen die Eltern sie einkaufen schickten, und wie es in deren Läden aussah. Immer mehr alte Bilder stiegen in ihr hoch, und am Schluss wollte sie wissen, ob er als Kind auch so gern »Einkriegezeck« gespielt hätte, ein Berliner Wort für Fangen. Er bejahte, und sie bemühte sich, einen Abzählreim zusammenzubringen:
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben!
Komm, wir wollen Kejel schieben!
Kejel um, Kejel um,
Böttcher, Böttcher, bum bum bum …«
Sie verstummte, überlegte und lachte verlegen. »Weiter weiß ich nicht mehr.«
Er ergänzte:
»Böttchers Frau,
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