Auf der Sonnenseite - Roman
Friedländer, wurden die Kinder zum Zug geführt. Darunter noch ganz kleine Jungen und Mädchen, sogar drei- bis vierjährige, und einige schon ältere Jugendliche. Sie, Hilde, drückte nur immer ihre Puppe an sich, für die sie eigentlich längst zu alt war, an der sie sich aber festklammerte, wohl weil sie ahnte, dass an diesem Tag ihre Kindheit zu Ende ging. Und sicher auch, weil ihre Elsa die einzige ihr vertraute Begleitung während dieser Reise sein würde. Sie war voller Angst, empfand nichts als eine unvorstellbar große Angst. Blickte sie in die Zukunft, sah sie nur eine große, graue Nebelwand vor sich, in die sie hineinmusste. Doch lief sie wie automatisch mit. Es gab kein Zurück, ihre Eltern wollten es so, und bisher war immer alles gut und richtig gewesen, was die Eltern für sie beschlossen hatten.
Lenz wusste von diesen Kindertransporten, wusste von Auschwitz, Treblinka, Theresienstadt und Maidanek, kannte viele solcher Leidensgeschichten. Er erfuhr nichts Neues, doch gab es keinerlei »Gewöhnung«; diese Geschichten setzten ihm immer wieder zu. An jenem Tag aber kam hinzu, dass er, abgesehen von Maxe Rosenzweig, erstmals jemandem gegenübersaß, der in direkte Berührung mit all diesen Verbrechen gekommen war. Das machte es beinahe unerträglich.
In London wurden die Kinder in ein Lager gebracht, in dem sie auf ihre Pflegeeltern warten sollten. Es hieß, diese »Eltern« würden sie in ihre Familien mitnehmen, und dort würde es ihnen gut gehen, bis ihre wirklichen Eltern sie eines Tages abholen würden. Hilde presste nur immer ihre Elsa an sich. Sie wollte nicht zu fremden Leuten. Ging es zum Waschen, musste man ihr Elsa aus den Händen reißen. Nie hätte sie geglaubt, dass diese Reise ihrer Lebensrettung diente; hätte sie gedurft, sofort wäre sie heimgekehrt.
Es kamen dann aber keine »Eltern«, es ging auf einen Dampfer, einen richtigen Ozeanriesen, der sie nach Australien brachte. Warum, wieso, wurde den Kindern nicht mitgeteilt. Es wurde ihnen nur immer wieder eingehämmert, sie sollten schön brav und freundlich sein und nirgendwo »anecken«, es geschähe alles nur zu ihrem Besten.
Tagelang starrte Hilde aufs Meer, ihre Elsa fest an sich gepresst. In London hatte sie viel geweint, jetzt konnte sie nicht mehr weinen. Nach London war es nicht weit, dahin wären die Eltern vielleicht eines Tages gekommen, um sie abzuholen – aber nach Australien? Das lag ja auf der ganz anderen Seite der Erdkugel; vielleicht würde sie die Mutter, den Vater nie wiedersehen.
In Melbourne fanden die Kinder Pflegeeltern. Sie kamen in die Unterkünfte und suchten sich »ihre« Kinder aus. Manche gefielen nicht, an denen gingen die fremden Erwachsenen lieber schnell vorbei. Hilde sah das und wünschte sich ganz fest, dass auch sie niemandem gefiel. Doch wurde schon bald ein kinderloses, freundliches Melbourner Lehrerehepaar auf sie aufmerksam. Vorsichtig wandte es sich ihr zu, begutachtete lange die inzwischen schon sehr zerfledderte und schmutzige Elsa, die jetzt aber unbedingt, wie die fremde Frau sagte, ein neues Kleid brauche, und fragten sie schließlich, ob sie sich vorstellen könne, sich mit ihnen anzufreunden.
Sie verstand genügend Englisch, um diese vorsichtige Frage richtig zu deuten, und hätte am liebsten den Kopf geschüttelt. Doch verkniff sie sich das, weil sie in Windeseile die Gesichter all der anderen Männer und Frauen überflogen hatte, die da zwischen den Kindern herumwanderten, und instinktiv spürte, dass es keine Möglichkeit gab, diesen Erwachsenen zu entkommen. Waren der schmächtige Mann mit der starken Brille und seine so mütterlich wirkende, vollbusige Frau da nicht vielleicht das geringste Übel? So nickte sie nur ängstlich und ging anschließend mit diesen Leuten mit, ihre Elsa wie immer fest an sich gepresst.
Sie kam in die Schule, lernte die englische Sprache und hatte – außer mit Elsa – keine Möglichkeit mehr, Deutsch zu sprechen. Die anderen deutschen Kinder, die sie während ihrer langen Reise kennengelernt hatte, mit denen sie sich aber aus lauter Heimweh nicht hatte anfreunden können, waren alle in ganz verschiedene Gegenden der Stadt und auch in die Randbezirke gebracht worden. Elsa blieb ihre einzige Vertraute, denn das Deutsche war für sie Heimat. Das einzige deutsche Kinderbuch, das sie hatte mitnehmen dürfen – Heidi von Johanna Spyri –, las sie immer und immer wieder.
Ihre Träume von Deutschland – eine schöne Flucht in die Vergangenheit. Erst
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