Auf der Sonnenseite - Roman
die alte Jrete,
saß uf eenen Baum und nähte,
fiel herab, fiel herab
und det linke Been war ab.
Kam der Doktor Zappelmann,
klebt det Been mit Spucke an …«
»Ja!« Sie musste lachen und fuhr fort:
»Saß et fest, saß et fest,
jing nie wieder ab!«
Und mit einem Mal hatte sie Tränen in den Augen.
»Entschuldigung!« Ärgerlich auf sich selbst, schüttelte sie den Kopf. »Das ist mir schon lange nicht mehr passiert. Sind wohl diese törichten Erinnerungen … Wie in einem kitschigen Film – man heult und ärgert sich über seine eigene Sentimentalität.«
Sie hatte das zur Hälfte auf Englisch gesagt, ihr fehlte oft das richtige deutsche Wort. Dann aber lachte sie wieder und fuhr im gleichen Mischmasch fort: »Einen ganz frechen Vers hatten wir Mädchen damals. Den durften unsere Eltern nicht hören. Kennen Sie den auch?« Und sie zitierte:
»Lass mir an deinem Busen
noch eenmal schmusen!
Da sprach se unter Tränen:
Ick hab ja keenen!
Den, wo ick jestern hatte,
der war von Watte.
Und jeden Tag ’n neuer,
det kommt zu teuer.«
Lenz kannte eine andere Busen-Variante und trug sie ihr vor und erneut musste sie lachen. »Ja, Humor hat man in Berlin. Und immer so schön kess!«
Gleich darauf wurde sie wieder nachdenklich und begann, mit ganz zarter, fragend klingender Stimme Heinrich Heines Loreley vor sich hin zu singen. Es hörte sich an, als sänge sie von einer längst vergangenen, aber noch selbst erlebten, in der Erinnerung bittersüß schmeckenden Zeit. Sie sang, bis sie nicht weiterwusste und Lenz ihr ein Stichwort geben musste. Am Ende verstummte sie verlegen. »Wird das heute noch gesungen?«
»Ja, aber wohl nur noch in der Schule. Und auch dort nur selten.«
Wieder schwiegen sie lange. Bis Lenz plötzlich stehen blieb, sich bückte und einen Stein aufhob. Es war ein faustgroßer, brauner und von vielen Jahrmillionen Meereswellen eiförmig und ganz und gar glatt geschliffener Stein. In seiner Hand lag er, als wäre er extra für sie angefertigt worden. »Den nehme ich mit«, entschied er auf der Stelle. »Das wird meine Erinnerung an diesen Tag sein. Er hat mich gesucht – und endlich gefunden.«
»Steine sind schwer«, bemerkte sie. »Drei Stück davon, und Sie zahlen für Übergepäck, wenn sie heimfliegen.«
»Ich brauch nur den einen.« Er behielt den Stein eine Weile in der Hand, dann steckte er ihn in die Hosentasche, nahm ihn aber gleich wieder heraus. Er war viel zu schwer für die Hose.
Weiter gingen sie am Strand entlang, sahen Segelboote und Riesenpötte den Melbourner Hafen ansteuern und schwiegen oder redeten über dieses und jenes, bis Hilde Friedländer ihn auf einmal leise fragte: »Möchten Sie meine Mutter sehen?«
Er glaubte, sie wolle ihm alte Fotos zeigen, und nickte: Ja, nachdem er ihre Geschichte kannte, wollte er gern auch die Gesichter all der Menschen sehen, von denen sie erzählt hatte.
»Gut!« Sie hakte sich bei ihm ein, führte ihn zu ihrem Wagen zurück und fuhr ihn zu sich nach Hause, in eine kleine, mit alten Möbeln schmuckvoll eingerichtete Wohnung. Doch zeigte sie ihm keine Fotos. Sie führte ihn vor ein großes Ölgemälde, das über einer schmalen, nicht sehr hohen Anrichte hing. Auf dem Gemälde war eine ihr ähnlich sehende schwarzhaarige, großäugige Frau im schwarzen Kleid abgebildet, die Lenz ernst anblickte.
Unwillkürlich wich er zurück. »Ist das Ihre Mutter?«
Sie nickte stumm.
»Aber woher haben Sie dieses Gemälde? Sie können es doch unmöglich im Gepäck mit sich geführt haben.«
»Nein!« Sie genierte sich ein wenig, als sie das sagte. »Das Bild hab ich nicht mitgenommen, das habe ich gemalt. Vor etwa zehn Jahren. Aus der Erinnerung.«
Ein beeindruckendes Gemälde. Die Farben – Braun, Rot, Blau, viel Schwarz und nur wenig Grün – sprangen dem Betrachter förmlich ins Auge, obwohl die Malerin einen feinen Pinselstrich gewählt hatte. Die Frau auf dem Bild wirkte so lebendig, als könnte sie sich, wenn sie nur wollte, jeden Moment in ihr Gespräch einschalten.
»Allein aus der Erinnerung?«, fragte er bewegt. »Ohne jedes Foto als Stütze?«
»Ich besitze gar keine Fotos aus meiner Kindheit. Meine Eltern hatten vergessen, mir welche mitzugeben. An alles hatte Mutter gedacht, warme Wäsche, Reiseproviant, Zahnpasta und Zahnbürste – an das Wichtigste, an Fotos, hatte sie nicht gedacht. Und dabei hat mein Vater so gern fotografiert. Alles wollte er festhalten, fast so, als hätte er gewusst, wie unwiederbringlich
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