Auf der Sonnenseite - Roman
seine Freunde aber nirgends entdecken. Die Gruppe der Kinder war wohl zum Marsch ins Innere der Insel aufgebrochen.
Erst auf der Rückfahrt sahen sie den Jungen wieder. Er war erhitzt und hatte sein schwarz-rotes Trikot inzwischen ausgezogen. Als er Lenz sah, lächelte er wieder. Es war ein Lächeln wie zum Anfang ihrer Begegnung und doch, irgendwie erschien es Lenz verändert.
Schämte der Junge sich seiner Reaktion? Oder interpretierte er, Lenz, dieses Lächeln nur deshalb so, weil er sich ein Schuldgefühl wünschte?
Er überlegte, ob er dem Jungen irgendwie verständlich machen konnte, dass viele Deutsche schon lange jedes Schießen ablehnten. Doch da winkte eines der Mädchen den Jungen zu sich, und er lief zum Bug, um gemeinsam mit ihr seinen Kopf in den Fahrtwind zu halten.
Ein Weilchen sah Lenz den beiden noch zu, dann wandte er sich ab.
Der Junge hatte ihn längst vergessen.
3. Dem Tiger Zähne ziehen
M it der Zeit lernte Lenz immer mehr Schriftstellerkollegen kennen. Darunter viele, die ihm sympathisch waren, und einige, denen er lieber aus dem Weg ging. Auch traf er bei größeren Literaturveranstaltungen öfter ostdeutsche Kollegen. Auf die war er besonders neugierig. Den einen oder anderen hatte er in seinen jungen Jahren voller Begeisterung gelesen; nun saß man an den Abenden beim Bier zusammen, nicht anders als mit Österreichern oder Schweizern.
Ob sie allerdings wirklich kommen würden, die Kollegen aus der DDR, wusste man zuvor nie, egal wie lange vorher und wie fest sie angekündigt waren. Sie erhielten ihr Visum immer erst am Tag vor der Abreise, die Vertreter der zumeist schon etwas älteren Generation, die in den Westen fahren durften. Bei älteren Schreibern war der Verdacht, sie könnten sich dort absetzen wollen, gering. So mancher junge DDR-Autor dachte viel zu kritisch über seinen Staat. Wusste man, was der »drüben« erzählte, wenn man ihm die lange Leine spendierte? Es war besser, er blieb hier.
Nein, Ganz- oder Halboppositionelle durften nicht in Richtung Westen reisen. Es sei denn, sie waren weltberühmt oder derDDR-Staat wäre den Querulanten gern losgeworden. Die da kamen, waren eher lammfromm veranlagt. Doch waren sie, selbst als Parteimitglieder und Verdienstordenträger, größtenteils nicht bedingungslos SED-gläubig. Man hatte sie zu Kompromissen gezwungen, aber noch lange nicht zu Idioten gemacht. Sie kamen nicht, um zu agitieren, wollten nur mal kurz raus aus ihrem Staat und nicht ständig bloß in östliche Richtungen reisen. Auch lockte das Honorar in Westmark, jene inoffizielle, aber außerordentlich beliebte Zweitwährung der DDR.
Für D-Mark bekam man in der Heimat fast jeden Luxus, sogar tüchtige Handwerker; für DDR-Mark war nur zu erstehen, was zum schnöden Alltag gehörte.
Mit den meisten seiner DDR-Kollegen kam Lenz gut aus. Vielleicht, weil er viel Verständnis für ihre Probleme aufbrachte. Ob sie über seine Vergangenheit informiert waren, wusste er nicht. Doch war anzunehmen, dass sie, spätestens nachdem sie ihren Reisebericht abgeliefert und darin ihre »Kontaktaufnahme« zu ihm erwähnt hatten, über ihn informiert wurden. Weshalb er ihnen bei erstbester Gelegenheit seine Geschichte lieber selbst erzählte.
Sie sollten sich von ihm zurückziehen können, falls sie Nachteile durch solche Abende beim Bier mit ihm befürchteten. Schließlich lebten sie in einem Überwachungsstaat, in dem sogar mancher Hinterkopf Augen hatte. Jeder musste gewärtig sein, von seinem Kollegen – auch wenn der aus dem Westen kam – überwacht oder für einen Überwacher gehalten zu werden. So durften sie in dem Reisebericht, zu dem sie verpflichtet waren, Begegnungen mit »Verrätern« keinesfalls verschweigen. Erich Mielkes Traum vom Kommunismus, so spottete mal einer, sei die hundertprozentige Überwachung; jeder eines jeden Spitzel. Mit einer einzigen Ausnahme: Mielke! Weil der Stasi-Chef sich selbst bespitzelte.
Als Faustregel galt: Je kleiner die Runde, desto offenherziger die Gespräche. Am besten, so stellte Lenz bald fest, war es, nur ein Gegenüber zu haben. Zwar wusste auch dieser Gesprächspartner nicht, ob Lenz eventuell kein »Weggegangener«, sondern ein von der Stasi in den Westen geschickter »Kundschafter des Friedens« war, der an der unsichtbaren Front den Sozialismus verteidigte, aber aus irgendwelchen Gründen wurde ihm das wohl nicht zugetraut. War er mit einem DDR-Kollegen allein, redete sich fast jeder etwas von der Leber. Vielleicht weil ja
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