Auf der Sonnenseite - Roman
auch, wer weggegangen war, noch immer in einem gewissen Verhältnis zu seinem ehemaligen Staat stand.
Nein, Lenz hielt mit seiner Geschichte nicht zurück, und doch erlebte er es kein einziges Mal, dass einer der Ost-Kollegen sich der abendlichen Bierrunde verweigerte, nur weil er dabei war. Selbst die treuesten Parteikader sagten sich wohl, dass solche Begegnungen im Westen ja immer mal passieren konnten und niemand ihnen etwas vorwerfen durfte, wenn sie anschließend nur ausführlich genug Bericht erstatteten.
Worin die meisten übereinstimmten, war die Aussage, dass ihr Staat da wohl Fehler gemacht habe und sie es sehr bedauerten, dass so viele wertvolle Autoren und Autorinnen weggegangen seien. Sie konnten damit aber nicht ihn meinen, der in der DDR kaum zwei Zeilen veröffentlicht hatte. Sie hatten andere im Kopf, nicht einen, der sein DDR-Leben lang nur ein heimliches Vielleicht-Talent gewesen war.
Lenz und all diese Männer und Frauen, die hinter den Namen steckten, die er schon so lange kannte, kamen gut miteinander aus, weil er ihre Situation verstand. Sie selbst hingegen verstand er nicht, egal wie sympathisch sie ihm waren.
Da schipperten sie nun schon seit so vielen Jahren übers Tintenmeer und lebten gut dabei. Bei vielen hatte sich irgendwann Hoffnung in Illusion und Illusion in Selbstbetrug verwandelt. Mit all ihren großen und kleinen Privilegien lebten sie in einer Scheinwelt – und wussten das auch. Wie konnten sie denn von einer Sache überzeugt sein, von der sie sich mit viel Mühe immer wieder selbst überzeugen mussten? Sie färbten schön, um keine Katastrophe zu erleben, und begingen damit gleich doppelten Verrat – an sich und an ihren Lesern.
Er sagte ihnen das nicht, weil er glaubte, ihnen das nicht vorwerfen zu dürfen. Es gab ihn nun mal nicht oft, den Mut, offenherzig Kritik zu üben, in einem Staat, in dem schon der leiseste Zweifel als feindliche Haltung angesehen wurde. Ehrliche Schreiber hatten da nur zwei Möglichkeiten: Weggehen oder sich immer wieder neuen Anfeindungen aussetzen. Wer aber durfte verlangen, dass sie zu schreibenden Widerstandskämpfern wurden, wenn sie, egal aus welchen Gründen, nun mal nicht weggehen wollten?
Die da kamen, hatten einen dritten Weg gewählt – den des Ausweichens. Sie umgingen die wirklichen Probleme ihrer Zeit und arrangierten sich achselzuckend, wenn auch hin und wieder mit den Zähnen knirschend, mit der Zensurbehörde. Doch musste, wer ständig nur ablieferte, was gewünscht wurde – egal ob im vorauseilenden Gehorsam oder erst nach etlichen Diskussionen mit dem Ministerium für Kultur –, sich nicht immer wieder selbst verleumden? Machte es nicht krank, sein Gewissen ein Leben lang der Autoreneitelkeit unterzuordnen?
Es gab viele große alte Namen, die zwölf Nazijahre lang auf der Liste der Verfolgten und Totgeschwiegenen gestanden hatten und müde waren. Sie hatten schon einmal fortgehen müssen, wollten nicht wieder wertvolle Lebenszeit einem so ungleichen Kampf opfern, genossen ihr Anerkanntsein in dem neuen Deutschland oder wollten den Glauben an die kommunistischen Ideale ihrer Jugend nicht aufgeben. Sie fürchteten, ihren lebenslangen Kampf sonst verloren geben zu müssen. Ist ja nicht leicht, sich einzugestehen, seine wertvollsten Jahre einer verlogenen Sache geopfert zu haben. Besser, man hielt all die Unfreiheiten, Propagandalügen und Geschichtsklitterungen, die man nicht anprangerte, für vorübergehende Kinderkrankheiten, bedingt und verstärkt durch den Kalten Krieg.
Akzeptiert, wenn auch nur schweren Herzens. Doch was war mit der Generation danach? Staatswillkür, Verordnungswesen, Alleinherrschaft einer Partei und Missachtung aller individuellen Freiheiten, das Ganze verbrämt und verziert mit einem unerträglich simplen Propagandabrei, waren das keine Themen, die einem Schreiber förmlich ins Genick sprangen? – Gewiss, wer in diesem Wespennest herumstocherte, kam nicht unbeschädigt davon und musste über kurz oder lang fortgehen. Doch war ein lebenslanges Schreiben unter der Dunsthaube der Macht – obendrauf Partei und Kulturminister – leichter auszuhalten?
Der alte Brecht wollte einmal ein Stück über Rosa Luxemburg schreiben. Er ließ es dann sein, weil er ansonsten »in bestimmter Weise« gegen seine Partei hätte argumentieren müssen, wie er in seinen Schriften zum Theater bekennt: »Aber ich werde mir doch den Fuß nicht abhacken, nur um zu beweisen, dass ich ein guter Hacker bin.« Der junge Brecht
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