Auf der Sonnenseite - Roman
Aufschrift einer internationalen Firma. In seinem Gesicht spiegelten sich Ehrfurcht und Entdeckerfreude wider, seine Augen huschten von hier nach dort, kamen keine Sekunde zur Ruhe, konnten sich nicht sattsehen.
Lenz beobachtete den Jungen, bis der seinen Blick auffing und ihm zulächelte. Lenz lächelte zurück und in der Folgezeit lächelten sie sich noch öfter zu. Offensichtlich waren sie einander sympathisch.
Später saß der Junge im schwarz-roten Trikot in der Reihe hinter Hannah und Lenz, umgeben von einer Schar gut gelaunter Jungen und Mädchen. Wieder lächelten sie einander zu, und dann tippte der Junge Lenz vertraulich auf die Schulter und fragte etwas. Auf Französisch. Es musste aber etwas sehr Lustiges gewesen sein, denn die Kinder um ihn herum lachten.
Lenz antwortete dem Jungen auf Deutsch, machte ihm klar, dass er kein Französisch sprach, und zuckte bedauernd die Achseln.
Der Junge hatte nicht verstanden.
»I don’t speak french«, versuchte Lenz es auf Englisch.
Das verstand der Junge. Er nickte und fragte: »London?«
Nein! Lenz kam nicht aus London, war kein Engländer. »Allemagne«, antwortete er.
Eine Sekunde lauschte der Junge diesem Wort nach, dann hob er beide Arme, als hielte er eine Maschinenpistole in seinen Händen, legte auf Lenz an und ließ die Maschinenpistole rattern.
Für kurze Zeit war Lenz unfähig, irgendetwas zu tun oder zu sagen. Hannah war es, die dem Jungen zärtlich über den verstrubbelten Haarschopf fuhr – so als ob er einen nicht ganz geglückten Scherz gemacht hätte. In Wahrheit war auch sie tief erschrocken.
Wollte der Junge mit seiner Gebärde andeuten, dass Deutsche schießen? Oder dass man auf Deutsche schießen muss? Auf jeden Fall hatte das Wort »Allemagne« ihn sofort an »Schießen« denken lassen, an Gefahr, Gewalt, Verteidigung, Angst.
Der Kapitän der Christophe Colomb fand noch viele Sehenswürdigkeiten, die er den Passagieren seines Schiffes unbedingt zeigen wollte. Einer der Felsen erinnerte an einen Männerkopf, einer an ein sich aufbäumendes Pferd, zwei einander zugeneigte deuteten einen Kuss an – Lenz sah das alles, seine Fantasie bestätigte jene Vergleiche, doch war er nicht mehr wirklich dabei.
Die Gebärde des Jungen! Ein kleiner Franzose, lange nach all den Kriegen zwischen den beiden ehemaligen Erbfeinden geboren, setzte Deutschsein gleich mit Schießen! Was hatte man dem Jungen erzählt, welche Filme hatte er gesehen, welche Comics gelesen? Hatte er über das, was er gehört, im Kino gesehen oder gelesen hatte, mit niemandem richtig reden können? Hatte man ihm nicht erklärt, wie es zu all dem »Schießen« gekommen war, das er mit Deutschsein verband, und dass diese Feindseligkeiten Gott sei Dank der Vergangenheit angehörten?
Lenz’ Großvater mütterlicherseits war in Arras gefallen, in Nordfrankreich. Das war im Ersten Weltkrieg. Sein Vater hatte sein Leben in der Nähe der Stadt Newel lassen müssen. Das war in Russland, im Zweiten Weltkrieg. Er hatte beide Männer nie kennengelernt, wusste aber, dass sie nur gezwungenermaßen Soldaten geworden waren. Was sie aus der Sicht ihrer Kriegsgegner jedoch nicht entschuldigte, schießend und tötend waren sie in fremde Länder eingefallen …
Hannahs und seine erste Reise nach Paris! Er hatte befürchtet, »Boche« – Schwein – gerufen zu werden, wie die Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg die Deutschen oft beschimpften, und war angenehm überrascht über die Gastfreundschaft, mit der man ihnen überall entgegenkam. Die Franzosen hatten wohl, wenn auch nicht vergessen, so doch beiseitegeschoben, was es an jahrhundertealten Feindseligkeiten zwischen ihren beiden Völkern gab, und Hannah und ihn, die 1943 Geborenen, nicht gleichgesetzt mit den Nazis und ihren Verbrechen. Seine Liebe zu Frankreich, zuvor allein durch die Literatur genährt, war mit jedem weiteren Besuch gewachsen. – Nun dieser Junge! Eine Ohrfeige, wenn auch unbeabsichtigt.
Im kleinen Hafen von Girolata gingen sie von Bord. Hier würden nur zehn Menschen leben, dazu ein paar Pferde und ein paar Kühe, erklärte der Kapitän. Ein idyllischer Ort. Die karg bewachsenen felsigen Berge aus rötlicher Erde waren gerade grün genug, um einen farbigen Kontrast zum Blau der Meeresbuchten zu bilden. Und über allem die strahlende Mittagssonne, die die Insel mit einer warmen Ruhe überzog.
Hannah und er setzten sich auf einen der Hügel mit Sicht auf die Bucht und hielten nach dem Jungen Ausschau, konnten ihn und
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