Auf der Sonnenseite - Roman
»Mit so was scherzt man nicht. Du gehörst ins Bett.«
Da gestand ihm der Genosse Rittergutbesitzer verschämt, dass sein Sohn sich zu Weihnachten eine Lederjacke wünsche, wie es sie nur im Westen gab. »Was soll ich machen? Mein Sohn ist nicht der Gesündeste, ich möchte ihm diesen Wunsch gern erfüllen.«
Lenz konnte diese Selbstaufopferung eines Vaters, der auch nicht der Gesündeste war, zu jener Zeit nicht so recht verstehen. Jahre später, als er hörte, dass der Sohn vor seinem Vater gestorben war, verstand er Kurbjuweit besser.
Ein Autor, von dem Lenz in früher Jugend ein Buch gelesen hatte, das lange zu seinen Lieblingsbüchern gehört hatte, erwies sich als große Enttäuschung.
Gotthard Praske, ein kompakter, blondlockiger Literaturfunktionär, durfte sogar mit Frau anreisen. Und das, obwohl sie, Typ modern gekleidete Halbintellektuelle, weder schrieb noch irgendwelche anderen offiziell beglaubigten dienstlichen Funktionen ausübte oder bereits im Rentnerinnenalter stand. Auch fand kein zu dieser Zeit von den DDR-Behörden bereits öfter mal genehmigter Verwandtenbesuch statt. Sie war einfach mitgefahren. Als Funktionärsgattin stand ihr das offenbar zu, falls es nicht doch irgendwelche anderen, eher inoffiziellen Tätigkeiten waren, die sie hergeführt hatten.
Lenz war neugierig auf Praske, brauchte aber nur einen halben Tag, um sich sein Urteil gebildet zu haben: Ein Frosch, geeicht darauf, die Temperatur des jeweiligen Milieus anzunehmen, in dem er sich gerade befand. Die Fleisch gewordene Karikatur eines Literaturbürokraten; einer, dem, wie Beethoven über Goethe gesagt haben soll, die Hofluft zu sehr behagte. Nur dass Praske eben kein Goethe, sondern ein »Ingenieur der Seele« war, wie Stalin es einst von den Schriftstellern verlangt hatte. So arbeitete er denn bereitwillig mit an der Selbstverherrlichung des Systems, in dem er lebte, stützte und förderte es. Übte er doch mal leise Kritik an den Verhältnissen innerhalb seines Staates, blieb sie stets oberhalb der sozialistischen Gürtellinie. Ein Buchstabenknecht, einer, der im Knast saß und die Gitter pries, die ihn vor der feindlichen Außenwelt schützten.
In den USA hieß es: »Right or wrong – my country!«, bei Gotthard Praske: »Right or wrong – my party!« Die Lehren seiner Partei, der wissenschaftliche Sozialismus, war ihm Katechismus. Dass gerade in seinem Staat beide Begriffe – Wissenschaft und Sozialismus – einander ausschlossen, weil die sogenannten wissenschaftlichen Sozialisten sich für unfehlbar hielten und auch den vorsichtigsten Zweifel an ihrer Lehre inquisitorisch verfolgten, jede wahre Wissenschaft jedoch ohne Infragestellung der eigenen Thesen und ohne jede Freiheit der Forschung nicht auskommt, was ging das einen Gotthard Praske an?
Sein Dilemma während jener West-Lesungen: Im Osten war er ein vom Staat abgesegneter, bekannter Autor mit hohen Auflagen, im Westen wurde gefragt: »Gotthard Praske – wer ist denn das?« Ein Manko, das an ihm nagte. Doch überspielte er seinen Ärger gekonnt und gab den satt und zufrieden in sich und seiner realsozialistischen Welt ruhenden Großschriftsteller, egal ob in der abendlichen Autorenrunde oder während seiner Veranstaltungen.
Für Lenz war dieses Schaulaufen nur schwer mit anzusehen. Praske und Frau hielten es offenbar für selbstverständlich, dass sie hier Westmark kassierten und Einkäufe tätigten, während andere, wollten sie mal einen Blick über die Mauer riskieren, dafür erschossen oder zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden. Der westliche Konsum galt solchen Parteikadern als dekadent, bekamen sie aber Devisen in die Hände, vergaßen sie das schnell. Die Wasserprediger, die heimlich Wein soffen, die ewig alte Geschichte.
Ja, und als es dann mal ernst wurde und Praske während einer Lesung zu dem noch immer anhaltenden Exodus seiner unbequemen DDR-Kollegen befragt wurde, verteidigte dieser OstBerliner Tartüff seine realsozialistische Heimat noch nicht einmal, sondern kniff feige. »Was woll’n Se denn von mir?«, giftete er das Publikum an, das so ungehörige Fragen stellte. »Bin ich der Staatsratsvorsitzende?«
Nein! Gotthard Praske war nicht der Staatsratsvorsitzende. Doch war er einer jener Funktionäre im Schriftstellerverband der DDR, die nur wenig später keinerlei Skrupel kannten, noch im Lande verbliebene unbequeme Autoren aus diesem Verband auszuschließen. Was in ihrer Heimat einem Berufsverbot gleichkam.
Zum Glück blieb Praske
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