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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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hätte diesen Fuß ganz sicher abgehackt. Weil der bereits vergiftet war und der junge Brecht gern hackte und er auf diese Weise vielleicht den restlichen Körper hätte retten können.
    Gedanken, wie sie Lenz während der gemütlichen Bierabende durch den Kopf gingen. Doch nein, keine Vorwürfe! Waren ja stets nur wenige, die versuchten, dem Tiger, dem sie untertan waren, ein paar seiner Zähne zu ziehen, egal wie wacklig die schon waren, wie verfault und wie sehr sie bereits stanken. Wer will denn seiner ketzerischen Gedanken wegen kriminalisiert, verfemt oder fortgestoßen werden? Er, Lenz, war weggegangen, weil er diese Art Tiger nicht mochte. Eine Macht, die man nicht infrage stellen darf, so seine Überzeugung, ist nicht zu reformieren. Und jede Macht ohne Skrupel blieb eine sinnlose Macht. Außerdem: Hätte er, der Schreibanfänger, an diesen Zähnen nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern laut und offiziell herumgedoktert, wäre ihm das schlecht bekommen. Nicht-Berühmtheiten waren schnell weggesperrt; da heulte keine Westpresse auf.
    Er war weggegangen, weil er keinerlei Hoffnung hatte, dass der Tiger irgendwann doch noch jemanden an seine Zähne lassen würde. Wenn seine DDR-Kollegen darauf setzten, dass die kranken Zähne eines Tages von selbst verschwanden und neue, gesunde nachwuchsen, wollte er ihnen gern die Daumen drücken. Er hielt sich nicht für mutiger als sie, konnte sich nur zugutehalten, den kranken Herrscher wenigstens nicht noch gestreichelt oder gar gefüttert zu haben.
    Ein Kollege, mit dem Lenz viele und lange Abende verbrachte, war der in seiner östlichen Heimat sehr beliebte, große, hagere, schon etwas ältere Fedja Kurbjuweit, der so wunderbar erzählen konnte. Kurbjuweit, mehrfacher Nationalpreisträger der DDR, auch Träger des Karl-Marx-Ordens und des Vaterländischen Verdienstordens, schilderte Lenz seine Kriegserlebnisse, sprach über berühmte, inzwischen längst verstorbene Kollegen und schwärmte von den Liebesabenteuern seiner Jugend.
    Lenz hörte ihm gern zu und schmunzelte, wenn der redselige Fedja stets das billigste Gericht bestellte und nie mehr als zwei Bier trank. Als einstiger DDR-Dienstreisender hatte er nicht anders gehandelt; egal ob Dollar oder D-Mark, harte Währung war viel zu schade zum Verfressen oder Versaufen.
    Als privilegierter DDR-Autor fuhr Kurbjuweit einen Volvo , ein im Land der Trabis und Wartburgs , Skodas und Moskwitschs ansonsten nur Regierungsmitgliedern und anderen ausgewählten, hochrangigen Personen vorbehaltenes Auto. Die Partei tat etwas für Autoren, die nicht stänkerten. Interessant aber war, dass Kurbjuweits Volvo an der Heckseite ein abnehmbares DDR-Schild zierte – oder richtiger: nicht zierte, weil Kurbjuweit es jedes Mal gleich nach Grenzübertritt abnahm.
    Wieso fuhr er denn als »Staatenloser« durch die westdeutsche Republik?
    Die Antwort: »Weißt du, man hat mich hier schon so oft angefeindet, dass ich – im Interesse meines Wagens – lieber darauf verzichte, jedem anzuzeigen, wo ich herkomme.«
    Der grüne Volvo hatte keine einzige Schramme, wurde gepflegt wie ein neugeborenes Baby; es müssen schlimme Ahnungen gewesen sein, die zu dieser Schutzmaßnahme geführt hatten. Doch waren sie von der Hand zu weisen? Gab es nicht genügend Spinner in der Bundesrepublik, die ihre Ablehnung der anderen deutschen Republik zu demonstrieren versuchten, indem sie sich an toten Gegenständen vergriffen? Vielleicht hätten sie bei der Marke Volvo und dem DDR-Schild ja geglaubt, sie hätten die Staatskarosse irgendeines hohen DDR-Funktionärs vor sich.
    Kurbjuweit lebte und arbeitete nach dem Motto: Lässt du mich leben, lass ich dich leben! Auf diese Weise lebte er gut, fuhr keinen Trabi , sondern einen Volvo und bewohnte kein »Arbeiterwohnregal«, sondern besaß, wie er selbst gern scherzte, nur eine gute Autostunde vor Berlin ein »Rittergut«. Es ging ihm also blendend, einmal abgesehen von jenen Extrawünschen, die schwer zu erfüllen waren, wenn man nicht ab und zu einmal gen Westen reiste, um sich ein bisschen was Hartes zu verdienen.
    Während eines kalten, schneereichen Novembers kam Fedja Kurbjuweit einmal verspätet zu einer Lesewoche. Seine DDR-Kollegen zuckten die Achseln: »Wird er wohl sein Visum nicht rechtzeitig erhalten haben.« Der wahre Grund war ein anderer: Eine handfeste Grippe hatte ihn niedergestreckt und es ging ihm noch immer dreckig.
    Der besorgte Lenz wollte wissen, weshalb er denn nicht zu Hause geblieben war.

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