Auf der Sonnenseite - Roman
einer argentinischen Kleinstadt, die an ein größeres bayerisches Dorf erinnerte. Die Ortstafel deutsch, die Straßennamen deutsch, die Werbetafeln in und über den Geschäften ebenfalls. Wohnten hier alles ehemalige, noch rechtzeitig aus Deutschland nach Südamerika geflohene Nazis und deren Nachfahren? Oder waren die Deutschen, die hier lebten, bereits vor oder erst lange nach dem Krieg eingewandert?
Er fand es nicht heraus. Auf seine vorsichtigen Nachfragen erhielt er nur sehr schwammige Auskünfte. Eine sehr konservative Grundströmung allerdings war unverkennbar. So bedankte er sich für die ihm entgegengebrachte Freundlichkeit durch seine ehemaligen Landsleute, wenn es sich um ältere Männer und Frauen handelte, nur mit sehr gemischten Gefühlen.
Ein Erlebnis hatte eher lustig-peinliche Züge. Es war noch in Buenos Aires. Da geriet er auf seinen Streifzügen durch die Stadt auch in die Boca, das Italienerviertel am alten Hafen, und dort in eine Kneipe, in der alles mit Maradona-Poster und Boca Juniors -Wimpeln zugehängt war. Kaum eine Handbreit freie Wandfläche war zu sehen. Und wie stolz war der Wirt darauf, dass »Diego« bei den Boca Juniors seine Karriere begonnen hatte und zu jener Zeit mit seinen Mannschaftskameraden oft bei ihm eingekehrt war.
Lenz bekundete sein Interesse am Fußball und der darüber hocherfreute Wirt lud ihn zu allerlei italienisch-argentinischen Spezialitäten ein, um genügend Zeit zu haben, ihm in einer Mischung aus Spanisch, Italienisch und Englisch ausführlich von den Heldentaten Jung-Diegos zu berichten.
Ein sehr »anregender« Nachmittag. Wenige Stunden später – Lenz war noch immer in den Straßen der »Stadt der guten Luft« unterwegs – kam das große Rumoren über ihn. Das, wovor alle ihn gewarnt hatten, war eingetreten: Montezumas Rache – Durchfall! Er beeilte sich, in sein Hotel zurückzukommen, denn öffentliche Toiletten gab es nicht, und in irgendein Restaurant zu flitzen, wagte er nicht, weil er zwischendurch immer wieder stehen bleiben und zusammenpressen musste, was nur zusammenzupressen war. So passierte es dann, und er musste sich an die Hotelrezeption schleichen, um seinen Schlüssel in Empfang zu nehmen, und danach fünf Etagen die Treppe hoch. Nur nicht den Fahrstuhl nehmen, sonst wäre es darin mit der guten Luft vorbei! – Den Rest des Nachmittags verbrachte er mit Duschen und großer Wäsche.
Drei Tage hielt sie an, die Rache des Aztekenherrschers, und das trotz Unmengen von Kohletabletten und Salzgebäck. Vor jeder Veranstaltung erst die Frage nach der Lage der Örtlichkeiten, dann der Bammel: Hältst du durch oder musst du eine Pause einlegen?
Nach Rosario fuhr er mit dem Bus.
Fünf Stunden Fahrt durch wechselnde Landschaften, Städte, Dörfer. Seine Mitreisenden, die oft nur von einem Ort zum anderen wollten – Bauersfrauen, mit Gepäck beladene Handelsreisende, große und kleine Jungen und Mädchen mit ihren Schultaschen unterm Arm –, alle starrten sie stumm auf den Fernseher unter dem Dach des Busses. Mit angespannten Mienen verfolgten sie eine der in Südamerika so beliebten, dialoglastigen Herz-und-Schmerz-Telenovelas. Lenz studierte lieber die Menschen, die ihn begleiteten, oder blickte in die so rasch ihren Charakter wechselnde Landschaft hinaus. – »Trinkt, ihr Augen, was die Wimper hält, von dem goldenen Überfluss der Welt!«
Wie langweilig ist dagegen doch das Fliegen!
Angekommen in der Stadt am steilen Ufer des Paraná, wurde er von einem kleinen, weißhaarigen, gut Deutsch sprechenden Argentinier namens Wolfgang Pirkheimer begrüßt. Der sehr geschäftig wirkende und gern redende Mann, der irgendwann aus Deutschland gekommen sein musste, ließ es sich nicht nehmen, den Koffer des so viel größeren und kräftigeren Lenz zu seinem Pkw zu schleppen, und erzählte und lachte dabei ununterbrochen übers Wetter, die schlechten Straßenverhältnisse, die Bierruhe der Argentinier. Kaum saßen sie nebeneinander im Auto, wurde er ernst, sah Lenz lange an und sagte leise: »Ich bin Jude.«
Eine neue Hilde-Friedländer-Geschichte? Bestürzt fragte Lenz, weshalb er ihm denn das so auf den Kopf zusage. Ob er glaube, das habe irgendeine negative Bedeutung für ihn, nur weil er Deutscher sei.
Der kleine Pirkheimer jedoch hatte nur sehr indirekt an die deutsch-jüdische Vergangenheit gedacht. Er fürchtete sich vor der Zukunft. »Hab Angst vor dem, was kommt«, gestand er Lenz.
»Was soll denn kommen?«, fragte der, nun erst recht
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