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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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überrascht.
    »Menem wird kommen.«
    Da begriff Lenz. In Argentinien wurde in der nächsten Woche gewählt, und Carlos Menem, der Peronist und zweimalige Gouverneur von La Rioja, der nach dem Militärputsch von 1976 fünf Jahre inhaftiert gewesen war, hatte beste Chancen, Staatspräsident zu werden. Menem galt als neoliberaler harter Hund, der mit radikalen Reformen die Wirtschaft des Landes sanieren wollte. Doch war er ein Antisemit, mussten Juden sich vor ihm fürchten?
    »Menem ist doch kein Hitler«, versuchte Lenz den kleinen Mann neben sich zu beruhigen.
    Pirkheimer zuckte die Achseln. »Wer weiß! Mein Vater sagte immer, unsereins überlebt alles – bis auf den eigenen Tod. Wird Menem gewählt, und es sieht leider ganz danach aus, gehe ich jedenfalls weg … Vielleicht sogar nach Deutschland … Auf euch passt sie auf, die Welt, woanders kann geschehen, was will.«
    »Aus welchem Teil Deutschlands stammt denn Ihre Familie?«, fragte Lenz, um den Weißhaarigen ein wenig von seinen Sorgen abzulenken.
    »Aus Sachsen. Hört man das denn nicht?«
    Nein! Pirkheimer sprach ein ganz korrektes Hochdeutsch; da war keinerlei Dialekt herauszuhören. Doch würde er es nicht viel eher als Kompliment auffassen, wenn er ihm bestätigte, dass da noch immer ein kleiner Rest Sächsisch erkennbar war?
    »Na ja«, log Lenz. »Wenn man ganz genau hinhört, dann bemerkt man es.«
    Und richtig vermutet, Pirkheimer strahlte. »Bin in Dresden geboren und aufgewachsen. Erst als ich zehn war, sind wir dort weg, gerade noch rechtzeitig … « Er machte eine Pause und lächelte Lenz verschmitzt an. »Und wie kommste am schnellsten nach Dresden? – Steckst’n Finger in Arsch und drehst’n.«
    Er machte eine um Entschuldigung bittende Handbewegung. »Damit haben sie uns Dresdner früher immer aufgezogen. Aber, na ja, das ist lange her, hier weiß kaum einer, wo Dresden überhaupt liegt.«
    Nein, kein reines Vergnügen, als Deutscher in der Welt unterwegs zu sein. Lenz sollte noch ein weiteres Mal daran erinnert werden, wo er herkam. Diesmal während einer Ferienreise.
    Hannah und er und auch Silke und Micha, natürlich nutzten sie die westlichen Reisemöglichkeiten. Silke trampte nach bestandenem Abitur mit ihrer Freundin durch die gesamte Bundesrepublik – vom Bodensee bis nach Nordfriesland, vom Saarland bis nach Bayern –, Micha mit seinem Freund gleich durch halb Europa: Schweiz, Frankreich, Spanien, Portugal. Die Eltern hatte es – abgesehen von den Ferienreisen mit den Kindern – zuerst nach Paris gezogen, jene Stadt, die ihnen aus der Literatur so vertraut war. Auf den Spuren Balzacs, Victor Hugos, Stendhals, Maupassants und Zolas wanderten sie durch die Stadt an der Seine, aus einer platonischen Liebe wurde eine sehr sinnliche.
    Später ging es nach Rom, London, Lissabon, Barcelona und Athen.
    Auf Ägina, einer der Inseln nicht weit von Athen, machten sie eine romantische Nachtfahrt mit einem alten Fischer und seinem Boot immer an der stillen, mondbeschienenen Küste entlang, auf Korsika saßen sie Abend für Abend auf den von der Meeresbrandung umspülten Felsen, um bei Rotwein, Brot und Käse diverse herrliche Sonnenuntergänge auf sich wirken zu lassen. Sie hatten sich diese Reisen, wie sie fanden, durch die Stasi-Haft ehrlich »erkauft«; eine besonders tief gehende Form der Genugtuung.
    Auf Korsika war es dann, wo Lenz mal wieder einen Tritt in sein deutsches Gemüt erhielt. Und diesmal traf es ihn besonders schmerzhaft.
    Es war während eines Ausflugs. Eine Schiffsfahrt von Calvi nach Girolata sollte einer der Höhepunkte dieser Ferien werden. Die Fahrt ging an der roten Felsenküste mit ihren vielen verwinkelten Seegrotten und tiefen Schluchten entlang, der Seewind zerzauste ihnen das Haar, und der Kapitän der Christophe Colomb , ein schmaler, sonnengebräunter Mann mit Schirmmütze und Pfeife, ließ sein Schiff langsam zwischen den Felseninseln hindurchtuckern und wies öfter mal auf besonders bizarr geformte Felsformationen und die Adlerhorste hoch oben in den Felswänden hin.
    Hannah und er standen inmitten der internationalen Touristenschar und waren beeindruckt. Was für eine faszinierende Welt! Doch dann wurde Lenz’ Blick abgelenkt. Ein dunkellockiger Junge, der sich weit über die Reling beugte und staunend in das kristallklare Wasser unter dem Motorschiff blickte, war ihm aufgefallen. Er musste zwischen zehn und zwölf Jahre alt sein und trug zur grünen Turnhose ein schwarz-rotes Fußballer-Trikot mit der

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