Auf der Sonnenseite - Roman
Reformpolitik, den lockenden Westen und das eigene Volk war jetzt, da Stacheldraht, Minen und Selbstschussanlagen ihre Bedeutung verloren hatten, nicht mehr zu gewinnen. Das sah sogar der berühmte Blinde mit dem Krückstock. Nur die außer mit Blindheit auch noch mit Schwerhörigkeit geschlagenen Mitglieder des Politbüros, denen diese ganz und gar aus dem Ruder gelaufene Sowjetunion keine Krücke mehr zugestehen wollte, bestanden auf ihrer Vogel-Strauß-Politik: Wie kann denn sein, was nicht sein darf?
Und so kannten, ermutigt durch die erfolgreichen Ausreisen so vieler ihrer Landsleute, bald immer mehr DDR-Bürger nur noch ein Ziel: Weg! Raus hier, solange die Gelegenheit günstig ist. Andere jedoch wollten gerade jetzt im Lande bleiben. Gorbatschows Reformpolitik machte ihnen Mut. »Sollen doch die Bonzen gehen«, sagten sie. »Das hier ist unser Land.«
Die so deutlich gewordene Schwäche der SED erschien allen, die bleiben wollten, als ein Silberstreif am Horizont. Ihr Gefängnis bestand ja nicht aus Steinen, es bestand aus Menschen. Und mit Menschen musste man doch reden können, egal wie betonköpfig sie sich gaben. Von Tag zu Tag mehr Leute machten den Mund auf. Und zum übergroßen Ärger der Genossen Zaunkönige waren es keine eingefleischten Antikommunisten, die sich da so mutig äußerten, sondern zumeist christlich geprägte junge Leute; Männer und Frauen mit Zivilcourage, Humor und einem ausgeprägten Freiheitswillen. Mit unbeugsamer Friedlichkeit hielten sie Kerzen in den Händen, trugen selbst gefertigte, originelle Transparente und sangen Lieder von einer besseren Welt.
Wie sollte man auf diese Jugend reagieren? Die riefen ja nicht »Stasi an den Galgen!«, die riefen: »Stasi in den Tagebau!« Nicht einmal die verbohrtesten Parteiaktivisten konnten, wenn sie ehrlich zu sich waren, in diesen jungen Menschen den konterrevolutionären Klassenfeind erkennen.
Lenz, mitgerissen von all dem, was da in seiner alten Heimat geschah, konnte nur staunen: Da wurde im Mai 89 anlässlich der Kommunalwahlen doch tatsächlich zum ersten Mal laut und deutlich von Wahlbetrug gesprochen! Und das vor westlichen Fernsehkameras und ohne dabei das Gesicht zu verstecken. So etwas hatte es zu seiner Zeit nicht gegeben. Zwar hatte auch damals jeder gewusst, dass Wahlerfolge von stets und ständig über 98 % unmöglich waren, doch wer hätte gewagt, seine Zweifel in irgendwelchen Medien zu äußern? Damals sagte man sich: Nur keinen Ärger machen, du änderst ja doch nichts! Spätestens wenn an der Tür geklingelt wurde und ein besorgter Funktionär daran erinnerte, dass man noch nicht wählen war, ging man hin, übersah geflissentlich die Wahlkabine, um nicht negativ aufzufallen, und steckte den Wahlschein, so wie man ihn in die Hand gedrückt bekommen hatte, in die Urne. Und wurde Beflaggung angeordnet, hängten auch viele von denen, die eher keine Fahnenschwenker waren, still und brav ihr Fähnchen in den Wind und lachten darüber, weil sie sich vor sich selber schämten. Ansonsten war da die Datsche oder das Warten – auf den Trabi , die Neubauwohnung, den Kühlschrank, die Waschmaschine oder die schon seit Längerem geplante Flucht.
Jene neue Generation war mit Anschaffungsplänen nicht mehr ruhigzustellen. Frech berief sie sich auf die DDR-Heilige Rosa Luxemburg und forderte die Freiheit der Andersdenkenden.
Die vor aller Welt als abgelehnt und autoritätslos, starr und betrügerisch vorgeführten Zaunkönige reagierten mit Schaum vorm Mund. Es wurde festgenommen, verhört und in den Westen abgeschoben. Wer drüben ist, hat im Osten keine Stimme mehr, redete man sich ein. Im Zeitalter von Rundfunk und Fernsehen eine schlimme Fehlkalkulation. Durch ihre Abschiebung erst so richtig prominent geworden, wurden die kritischen Stimmen in Ost und West nur umso lauter gehört.
Gorbatschow! Ein Name, der für vieles stand, vor allem aber für mehr Offenheit und Demokratie im Osten. Mit der Bundesrepublik allerdings tat sich der neue sowjetische Staatschef anfangs schwer. Er nahm es seinem späteren Männerfreund Kohl lange übel, dass er ihn mit dem Obernazi Goebbels in einen Topf geworfen hatte. Seit dem Sommer 1987 jedoch bewegten sich beide Staaten wieder aufeinander zu. Ein Besuch Richard von Weizsäckers, zu jener Zeit Bundespräsident, hatte das Eis gebrochen. So war im Jahr darauf auch der Kanzler in Moskau wohlgelitten.
Es war Bewegung in die Politik gekommen. Die Risse im Eis wurden größer, es bröckelte und
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