Auf der Sonnenseite - Roman
Besitzer so ’ner Rennpappe werden. Zeit ist nun mal Geld, im Osten vielleicht sogar noch mehr als im Westen.«
»Nee!« Er schüttelte sich, als hätte er in seinem Bier eine Küchenschabe entdeckt. »Arbeiter- und Bauernstaat, das ist der größte Witz der Weltgeschichte, eine Beleidigung meiner Intelligenz. Und das dümmste Wort aller Zeiten lautet ›Verräter‹! Verraten kannste doch nur, woran du mal geglaubt hast oder wofür du eingetreten bist … Hab ich je an diesen Staat geglaubt? Bin ich auf irgend’ne Weise für ihn eingetreten? Nicht mit Worten, nicht mit Taten! Hab nur die Schnauze gehalten und meine Arbeit gemacht … Aber selbst, wenn’s anders gewesen wäre – hat meine Überzeugung sich geändert, dann hat sie sich eben geändert! Wo, bitte schön, liegt da der Verrat?«
So sprach Harry Ruge an jenem Abend. Zwei Jahre später zog er – nach politischer Wende und Wiedervereinigung – zurück in den Ostteil der Stadt. Seine Begründung: »Im Westen wird mir ständig erzählt, dass ich vierzig Jahre lang falsch gelebt habe. Es sei zwar nicht meine Schuld, heißt es, aber was wir Ostler gemacht haben, das sei doch alles Murks gewesen … Aber, Mensch Manni, das war doch mein Leben! Verlief zwar nicht so, wie von mir gewünscht, doch gelebt ist gelebt. Hab schließlich nicht vierzig Jahre lang nur den Kopf eingezogen und gelitten. Soll ich mir da ewig diese arroganten Sprüche mit anhören, soll ich den größten Teil meines Lebens allein unter Verlust verbuchen?«
Während jenes ersten Treffens bei Joe am Kudamm hatte er noch anders gedacht. Da war er voller westlicher Zukunftspläne. Und so standen sie an ihrem Tisch und redeten, bis der Morgen graute und die beiden Neu-Westler darüber staunten, dass auf dem Kudamm noch immer so viel Betrieb war. Fast so, als wäre es erst Nachmittag oder früher Abend. Unternehmungslustige junge Leute zogen vorüber, grauhaarige Berlin-Touristen, schrille Punker und ein paar Betrunkene oder Bekiffte. Und fast alle sahen sie im Vorbeiwandern zu den drei Männern an ihrem Stehtisch hinter der großen Fensterfront hin.
»Dit is det wahre Leben!« Heinzies Augen glänzten feucht. »Und dit ham wa, nur ’n paar S-Bahn-Stationen davon entfernt, nu fast dreißig Jahre lang versäumt. – Lieber Jott, wat hab ick jetan, dass de mich so bestrafst? Am liebsten würd ick nur noch heulen.«
Doch flossen keine Tränen. Sie waren auch weiterhin bester Stimmung, tranken noch das eine oder andere Bier und verabredeten ein nächstes Treffen. Gibt es etwas, das mehr verbindet als eine gemeinsame Kindheit in den Ruinen?
5. Reizklima
E s waren aber nicht allein Lenz’ Heimweh und die zahllosen Möglichkeiten des Berliner Kulturbetriebes, die Hannah und ihn heimgeführt hatten. Der Autor Lenz suchte das Reizklima, für das seine Heimatstadt so berühmt war. Im geteilten Berlin war auf allerengstem Raum zu beobachten, was in der geteilten Welt vor sich ging. Dass Hannah und er mitten in eine der aufregendsten politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts hineingeraten würden, wie hätten sie das ahnen sollen? Die Jahre zuvor waren keine sehr hoffnungsgeprägte Zeit gewesen.
Da hatte es die unendlichen Debatten um die Nachrüstung gegeben. Amerikanische Pershing-2 -Raketen und Cruise-Missiles sollten gegen die auf das westliche Europa gerichteten sowjetischen SS-20 -Raketen ausgespielt, also Feuer mit Benzin gelöscht werden. Ziel des berühmt-berüchtigten Nato-Doppelbeschlusses, gegen den auch Hannah, Silke, Michael und Manfred Lenz auf der Bonner Hofgartenwiese protestiert hatten, war es, mit der Stationierung weiterer Waffen Abrüstungsverhandlungen zu erzwingen. »Frieden schaffen ohne Waffen«, lautete die Losung.
Ein schöner Slogan! Ein schöner Traum! Und es war ja ein so leichtes Protestieren und Demonstrieren in dem Teil der Welt, in dem den Bürgern das Recht der freien Meinungsäußerung eingeräumt wurde. Nur ließen sich auch hier die Regierenden von diesen Meinungsäußerungen nicht beeinflussen. So weit ging die Demokratie denn doch nicht.
In der Welt hingegen, die sich sozialistisch nannte und in der nur in Richtung Westen protestiert und allein auf Anordnung der regierenden Partei demonstriert werden durfte, musste Mut beweisen, wer sein konträres Denken laut äußern wollte. Dennoch gab es auch dort viele junge Leute, die sich nicht scheuten, den Politikern klarzumachen, wohin ihre Wünsche gingen. »Schwerter zu Pflugscharen« wollten sie
Weitere Kostenlose Bücher