Auf der Sonnenseite - Roman
taute. So wurde manches zuvor Undenkbare plötzlich möglich.
Was dann in Berlin enden sollte, es begann in Ungarn.
Ein »Paneuropäisches Picknick« hatte es werden sollen, dieses Fest des europäischen Zusammenhalts und Zusammenwachsens an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich in jenem August des Jahres 89. Um diese neue, alte Verbundenheit zu demonstrieren, öffnete man für drei Stunden ein Tor im Grenzzaun an der alten Landstraße ins burgenländische St. Margarethen – drei Stunden, die von mehr als sechshundert Touristen aus der DDR genutzt wurden, um in den Westen zu fliehen! Im Fernsehen war es weltweit mitzuverfolgen, dieses neue, spektakuläre »Loch in der Mauer«. So harrte denn, wer aus der DDR kam und nicht das Glück hatte, innerhalb dieser drei Stunden an jenes Tor zu gelangen, weiter in Ungarn aus, um die nächste günstige Gelegenheit nicht zu verpassen oder an anderen Grenzübergangsstellen sein Glück zu versuchen. Diese Ferien, so hatten viele für sich entschieden, sollten ohne Heimkehr bleiben.
Wieder wurde verhandelt, diesmal zwischen der ungarischen und der bundesdeutschen Regierung. Und ein jahrzehntelang undenkbares Wunder geschah: Am 11. September, pünktlich um Mitternacht, öffnete die ungarische Regierung entgegen bestehender Verträge mit der Honecker-Regierung ihre Grenze ganz. – Die Folge? Binnen dreier Tage reisten fünfzehntausend DDR-Bürger aus. Bis Ende Oktober waren es fünfzigtausend. In bundesdeutschen Turnhallen und rasch errichteten Zeltstädten fanden sie erste Unterkunft.
Hannah und Manfred Lenz, wie immer im Sommer in ihrem Feriendomizil an der Nordsee arbeitend, rieben sich die Augen. War das denn möglich? Die Landsleute im Osten mussten nicht mehr durch Minenfelder kriechen, um rauszukommen aus ihrem ungeliebten Staat, mussten keine Ausreiseanträge mehr stellen oder gefälschte Pässe erwerben, um irgendwie übers Ausland zu verschwinden – sie fuhren nach Ungarn, marschierten über die kaum noch bewachte Grenze und waren weg?
Die Zaunkönige protestierten, ihre ungarischen Genossen jedoch, mit einem Mal wieder Gesamt-Europäer, setzten nur drei Monate später dem Ganzen die Krone auf, indem sie das Abkommen mit der DDR auch formell aufkündigten.
Was für ein Tritt vor Honeckers Schienbein! Zwar hatte dieses Abkommen zuletzt nur noch auf dem Papier bestanden, aber laut zu sagen, wie man zukünftig zu handeln gedachte, war etwas anderes, als nur großzügig beide Augen zuzudrücken. – Lenz registrierte glücklich: Das ehemals so fest betonierte sozialistische Lager war kein Lager mehr!
Zähneknirschend verboten Honecker & Co. alle Touristenreisen nach Ungarn. Doch waren da ja noch die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Warschau und Bukarest. Unmöglich, die Grenzen zu allen osteuropäischen Staaten zu schließen. Genau das aber befürchteten viele der Zurückgebliebenen. Und um nicht die Dummen zu sein, die eine einmalige Chance nicht beim Schopf gepackt hatten, machten nun auch die, die bislang noch gezögert hatten, sich auf den Weg in die sozialistischen Nachbarstaaten.
Berühmt jener Prager Botschaftsgarten, in dem sich im Oktober 89 nicht weniger als siebentausend Menschen befanden. Und das, nachdem erst Ende September, nach zähen Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Regierungen, dreieinhalbtausend diese Fluchtstation in Richtung Westen verlassen durften. Der Jubel, der ausbrach, als der Bundesaußenminister vom Balkon des altehrwürdigen Palais Lobkowicz den dort gedrängt stehenden Männern, Frauen und Kindern ihre baldige Ausreise in die Bundesrepublik ankündigte – die wohl lauteste Ohrfeige, die die Genossen Zaunkönige bis zu diesem Zeitpunkt von ihrer Bevölkerung erhalten hatten.
Später die Fahrt der siebentausend in ihr neues Leben. Honecker & Co. hatten sich ausbedungen, dass die Ausreise »ihrer Menschen« aus der DDR erfolgen müsse; mal wieder so ein vergeblicher Versuch, einigermaßen das Gesicht zu wahren. Die über die Fernsehschirme der Welt flimmernden Bilder sprachen dem Hohn. Wie da die »Rübermacher« aus den Zügen heraus ihrer alten Heimat zuwinkten, traurig und freudig bewegt zugleich! Die verplombten Türen der Waggons, damit niemand noch während der Fahrt aufspringen konnte; die vielen Tausend Dresdner, die mit Wasserwerfern vom Bahnhof fortgehalten werden mussten, damit sie sie nicht dennoch enterten, diese Züge, die für so viele die einzige Hoffnung bedeuteten …
Nein, man kann niemanden zu
Weitere Kostenlose Bücher