Auf der Sonnenseite - Roman
einem Glück zwingen, das nicht sein ganz persönliches Glück ist. Auch verliert dort, wo die Einschüchterung versagt, jede Diktatur ihre Macht. Erfahrungen, die alle diktatorisch geführten Regierungen irgendwann machen mussten. Doch die Niederlage eingestehen und abtreten? So viel Größe besaßen sie nicht, die Genossen Zaunkönige. Nach dem Motto »Augen zu und durch« führten sie zur Feier des vierzigsten Geburtstags ihrer Republik noch eine von aller Welt belächelte sozialistische Operette auf. Ströme von FDJlern mussten an diesem Abend an der vergreisten Führerschicht des dem Untergang geweihten Staates vorüberziehen. »Hoch! Hoch! Hoch!«, mussten sie schreien und hell leuchtende Fackeln schwenken. Geburtstagsgast Gorbatschow prägte nur wenig später das berühmte Wort: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«
Tags zuvor hatte Lenz beobachtet, wie der sowjetische Staatsgast auf dem Flughafen Schönefeld empfangen wurde. Eine Szene, die ihn vor Überraschung aus seinem Fernsehsessel springen ließ: Honecker hatte der Weltöffentlichkeit die unverbrüchliche Freundschaft beider Staaten vorführen wollen und Gorbatschow übertrieben herzlich empfangen. Zwar hatte Gorbatschow den zwischen sozialistischen Staatschefs üblichen Bruderkuss dem deutschen Genossen nicht verweigern können, doch als Honecker danach demonstrativ Händchen haltend mit ihm über den Flugplatz schlendern wollte, nutzte er die erstbeste Gelegenheit, jene Liebesszene abrupt zu beenden, indem er auf ihm zujubelnde Demonstranten zuging.
Eine Nebensächlichkeit? Nein, da wollte einer nicht mehr allzu viel Bruderliebe demonstrieren; dieser Honecker war Gorbatschow peinlich, ein gewisser Abstand erschien ihm notwendig. Viel Hilfe vom großen Bruder durfte die Honecker-Truppe offensichtlich nicht mehr erwarten.
Nun dieser lächerliche Fackelzug! Und dazu die Mienen der Staatschefs auf der Ehrentribüne. Was ging in ihren Köpfen vor? Unmöglich, dass sie so frohgemut waren, wie sie sich gaben. Honecker lächelte sein schales Bürokratenlächeln und spielte ohne Ende das stolz-vergnügte Geburtstagskind, Gorbatschow winkte den Jublern eher zurückhaltend zu, wirkte unfroh in seiner Rolle als Geburtstagsgast. Ein Schauspieler in einer Inszenierung, in der er nur mitspielt, weil er vertraglich dazu verpflichtet ist.
Was für eine gespenstische Geburtstagsfeier! Tags zuvor hatte es in Dresden und Leipzig heftige Demonstrationen gegeben; Tausende waren auf die Straße gegangen, um für eine neue Politik, für mehr Demokratie und Menschenrechte einzutreten. Jetzt all diese jungen Leute in den blauen Hemden, die brav jenen Greisen zujubelten, die die Mehrheit der Bevölkerung inzwischen zum Teufel wünschte. Alles nur willfährige Mitlatscher? Alles Dummköpfe? Oder alles Karrieristen, die ihre Zukunft nicht aufs Spiel setzen wollten und sich allein deshalb dieser verlogenen Zeremonie nicht verweigerten? Sie wussten ja nicht, wie es weitergehen würde mit diesem sterbenskranken Geburtstagskind.
Noch am gleichen Abend liefen andere durch die OstBerliner Straßen, um zu zeigen, was sie von dieser Selbstbejubelung Uneinsichtiger hielten. Wieder andere wagten sich zwar nicht auf die Straße, standen aber hinter ihren Fenstern und klatschten den Demonstranten aus vollem Herzen Beifall. Und aus dem Westen, der ansonsten gern für solcherart Störungen des friedlichen sozialistischen Zusammenlebens verantwortlich gemacht wurde, konnten diese Spaßverderber ja nicht gekommen sein, hatten die Zaunkönige doch für die »Festtage« alle Grenzübergänge geschlossen und sich damit einer ihrer beliebtesten Propagandalügen beraubt.
Tags darauf neue Demonstrationen. Und einen weiteren Tag später zogen allein in Leipzig siebzigtausend durch die Stadt … Für Lenz eine deutsche Oktoberrevolution, nichts anderes! Und niemand, der den Zaunkönigen zu Hilfe kam; keine sowjetischen Panzer rollten durch die Straßen, um für »Ruhe und Ordnung« zu sorgen, wie einst im Jahre 53. Das Politbüro war gut beraten, als es entschied, auch die eigenen Einsatzkräfte besser zurückzuziehen.
Aber auch diejenigen, die mit dem Ruf »Wir sind das Volk« durch die Straßen zogen, waren klug beraten. »Keine Gewalt«, so lautete ihre oberste Losung. Das hilflose Geknüppel und die wenigen, wirkungslosen Festnahmen durch die Stasi – nichts als die erschrockene Abwehrreaktion eines in die Enge getriebenen Staates.
Am Ende kam, was kommen musste: Ein Sündenbock
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