Auf der Sonnenseite - Roman
Hand über’n Kudamm schlendern sehe, Mensch, da weeß ick doch erst, wat ick versäumt habe. Sich so zeigen zu dürfen, dit is die große Freiheit für unsereenen! Nur kommt se für Kleen-Heinzie leider viel zu spät.«
Er trank viel, der ehemalige Taxifahrer Becker, der nun als Pförtner arbeitete, weil er nicht mehr so lange sitzen konnte. Auch hatte er sich das Saufen angewöhnt in all den Jahren, in denen er sich abgelehnt und minderwertig fühlte. Er sprach auch offen darüber und wollte dem Alkohol gerade jetzt nicht abschwören. »Will meine letzten paar Jahre in vollen Zügen jenießen. Wie viele hab ick denn noch? Zehn? Fuffzehn? Wenn’s hoch kommt, zwanzig. Da lass ick nischt aus, da hol ick nach, wat nur nachzuholen is. In der Liebe und im Suff. Der Ost-Schnaps war ja nich gerade ’n Zungenschmeichler jewesen.«
Vielleicht war es gut, dass er so dachte, der Heinzie Becker, denn mit seiner niedrigsten Schätzung sollte er recht behalten. Er hatte tatsächlich nur noch zehn Jahre. Die verbrachte er am Ende als verarmter, einsamer Kranker in einer kleinen, zwar stets sehr aufgeräumten, blitzeblanken, aber doch irgendwie an eine Gefängniszelle erinnernden Neubauwohnung.
Harry Ruge hatte ziemlich viel im Osten »erwirtschafteten« Besitz geopfert, um im Westen bleiben zu können. Darunter eine große, »westlich« eingerichtete Wohnung, ein Ladengeschäft – »Damentextilien« –, das nun ganz allein seiner Frau gehörte, und zwei kleinere Grundstücke in Brandenburg.
»Was nützt mir all der Wohlstand«, verkündete der früh ergraute gute Kumpel von einst, »wenn ich nicht leben darf, wie ich will? Oder denkt ihr, mir verbleibt mehr Zeit als euch? Noch ’n paar Jahre und mit Harry Ruge ist’s vorbei. Und was hab ich gesehen von der Welt? Bulgarien, Rumänien, Polen. Will aber irgendwann mal nach Amerika. Hab als Junge schon davon geträumt. Steige ich in die Kiste, ohne mal da gewesen zu sein, fühl ich mich von meinen eigenen Träumen verarscht.«
Bereits als junger Fernmeldemechaniker hatte er eine Flucht versucht, war erwischt worden und im Gefängnis gelandet. Danach hatte er sich nach außen hin angepasst, insgeheim aber doch »sein Ding« gemacht. Bei der Deutschen Post der DDR angestellt, hatte er Telefonleitungen verlegt – was bedeutete, dass er überall ein gern gesehener Gast war. War ja jeder glücklich, wenn er nach vielen Jahren Wartezeit zu den Privilegierten gehörte, die ein solch nützliches Gerät in die Wohnung gelegt bekamen. Später, als er einen leitenden Posten bekleidete, konnte er Kunden vorziehen oder zurückstellen, kurz: Harry saß an der Quelle, und wer an der Quelle sitzt, der verdurstet nicht.
Seine Frau und er hätten sich längst auseinandergelebt, erzählte er, als Lediger aber hätte er kaum eine Chance gehabt, mal eine Besuchsreise in den Westen antreten zu dürfen. Weshalb seine Frau und er mit der Scheidung noch gewartet hätten. »Werd den harten Schnitt von hier aus beantragen, von einem ›Verräter‹ wie mir wird man meine Schöne schnell entbinden.«
Harry Ruge nahm der DDR vor allem eines übel: dass sie sich einen Staat der Arbeiter und Bauern nannte. Seiner Meinung nach hatte er einen Drei-Klassen-Staat verlassen. »Die erste Klasse, sozusagen der Adel, das sind die Volvo -Fahrer, also all die nur schlecht funktionierenden Funktionäre und sonstigen hohen Parteikader. Die sitzen in ihren Wandlitz-Villen oder Superdatschen an irgendeinem für sie reservierten Plitsche-Platsche-See und spielen Creme der Gesellschaft. Wenn auch sicher nur auf äußerst piefige Art, weil ihnen zur echten High Society das Format fehlt. Die zweite Klasse, das neureiche, gut situierte Bürgertum, das sind all die Handwerker, die nur noch kommen, wenn du mit Westmark klimperst. Damit kaufen sie die Intershop -Läden leer und lachen über jeden, der nichts als Spielgeld im Portemonnaie hat. Na, und die dritte, die unterste Klasse? Das sind die einzig ehrlich Arbeitenden, das Proletariat. Und die sind wahrhaftig arm dran. Zwar haben sie genügend Leberwurst auf der Stulle, aber will sich einer irgendwann seinen Trabi gönnen, weil das Spielgeld auf seinem Konto nach Bewegung schreit, muss er noch heute – dreißig Jahre nach’m Krieg! – sein halbes Leben lang in der Ecke stehen und warten oder sich ’nen Gebrauchten zulegen. Der ist aber doppelt so teuer, weil du ja die Wartezeit sparst. Trotzdem zahlste. Bleibt dir ja gar nichts anderes übrig, willste stolzer
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