Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
Vom Netzwerk:
musste her! Einem musste die Schuld an allen »Fehlern« der Vergangenheit aufgeladen, einer dem Volk als Opfer vor die Füße geworfen werden. Tja, und wer eignete sich besser für diese Rolle als der oberste Zaunkönig selbst? Noch wenige Tage zuvor hatte er getönt: »Vorwärts immer, rückwärts nimmer!«, nun ging es für Honecker doch »rückwärts«. Ein anderer Genosse Sturkopf, ein Mann, der Lenz an den französischen Komiker Fernandel erinnerte, wurde oberster Staatschef. Der, zuvor Bejubler der chinesischen Härte gegen missliebige Demonstranten, trat vor die Fernsehkameras, grinste sein Fernandel-Grinsen, gestand Fehler ein und kündigte Reformen an, die keiner mehr wollte. Spätestens am 4. November, einem Samstag, wurde das deutlich.
    An jenem milden Herbsttag versammelten sich auf dem OstBerliner Alexanderplatz nicht weniger als eine Million Menschen. Bekannte Schauspieler, Schriftsteller und Bürgerrechtler traten ans Mikrofon und verlangten mit zuvor in ihrem Staat nie gehörten, klaren Worten wirkliche demokratische Verhältnisse und damit ein Ende der Allmacht der SED. Als der Stasi-Mann Markus Wolf ebenfalls ans Mikrofon trat, um sich bei den Demonstranten anzubiedern, wurde er gnadenlos ausgepfiffen.
    Auch Hannah und Lenz waren hingefahren. Sie standen dabei, hielten sich an den Händen und fühlten sich in den Himmel gehoben: Diese Transparente und Schilder mit den so deutlichen Forderungen und witzigen Formulierungen! Die Begeisterung in den Gesichtern der Menschen! Diese urbane Fröhlichkeit! Nicht in ihren kühnsten Träumen hätten sie sich einen solchen Aufbruch vorstellen können. – Was für ein Glück, dass sie rechtzeitig zurückgekehrt waren!
6. O du fröhliche!
    E in grauer, milder, fast warmer Heiligabend. Lenz saß an seinem Schreibtisch hoch über dem Reinickendorfer Schäfersee und schrieb. Der Roman über das Schicksalsjahr 1933 sollte im nächsten Herbst herauskommen, Ende Januar musste das Manuskript abgeliefert sein.
    Zum Brandenburger Tor wollte er nicht. Es war ihm zu viel Wirbel um die Wiedereröffnung gemacht worden. Vor zwei Tagen schon war das geschehen, mit jeder Menge Politprominenz, doch bestimmt würden die Menschen sich dort noch immer auf die Füße treten. Und er steckte so tief in seinem Roman, er wollte da nicht raus.
    Auch Hannah schrieb. An ihrem brandneuen Computer, den sie nach einem Crashkurs erst jetzt so richtig kennengelernt hatte, schrieb sie ab, was er in seinem kleinen, schmalen Schreibzimmer mit Blick zum hell angestrahlten OstBerliner Fernsehturm fabriziert hatte. Der Termin war eng. Schon seit Wochen saßen sie von morgens bis abends an Schreibtisch und Computer. Stalin fühlte sich vernachlässigt, wanderte von einem zum anderen, maulte und fiepte, stupste an und kläffte auffordernd. Sogar das Gassigehen fand in diesen Tagen nur in allerhöchster Eile statt. Einmal rund um den kleinen See – das war’s! Viel zu wenig für einen geborenen Stromer und Wühler.
    Mitten in die arbeitsame Stille hinein klingelte das Telefon. Fränze war dran, Fränze, die seit drei Jahren mit einem ehemals sehr linken Hamburger Immobilienmakler verheiratet war, der alternative Wohnobjekte verhökerte. In dem Gefühl, endlich den Richtigen gefunden zu haben, war sie zu ihm nach Hamburg gezogen, hatte an der dortigen Universität einen Lehrstuhl inne und war, zwar noch immer ein kritischer Geist, mit den Jahren deutlich milder und toleranter geworden. Überrascht, sie überhaupt erreicht zu haben, rief sie in den Hörer: »Was denn, ihr seid zu Hause? Hab nur mal probiert, ob einer rangeht. Ihr wisst ja, wie ich dieses Fest aller Feste mag. Am liebsten würde ich’s verschlafen … Aber ihr! Ich dachte, ihr seid am Brandenburger Tor! Muss doch für euch was ganz Besonderes sein – Heiligabend zwischen den Welten! Und da ihr so ganz allein seid … «
    Sie waren allein. Silke feierte mit ihrem Freund und seiner Familie Weihnachten, der Zivildienstler Micha bekam erst übermorgen frei. So war das eben, wenn man erwachsene Kinder hatte. Es hatte ihnen – arbeitsfreudig gestimmt, wie sie waren – auch nicht viel ausgemacht. Nun Fränzes Anruf. Mussten sie denn wirklich ununterbrochen arbeiten, war es – gerade für sie! – nicht eine Art Pflicht, an diesem Abend in die Innenstadt zu fahren?
    »Lass uns hingehen«, drängte Hannah, nachdem Fränze ihren Weihnachtsfrust bei ihr abgeladen und aufgelegt hatte. »Irgendwie hat dieser Abend doch auch was mit 33 zu tun.

Weitere Kostenlose Bücher