Auf der Sonnenseite - Roman
Befehle befolgt hatten, nur kamen sie sich dabei ein wenig überflüssig vor.
Jetzt erinnerte nichts mehr an jene Mauerparty. Hoch und grau und unsagbar hässlich lag es vor ihnen, jenes Bauwerk, das noch immer die Welt teilte, wenn inzwischen auch ein bisschen weniger als zuvor.
Brechts Lied von der Moldau : »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine … « Einst war die Mauer »groß«, wie der Staat, der sie errichtet hatte, und die Menschen waren »klein«. Jetzt, so empfand es Lenz, hatte sich das umgekehrt. Die Mauer, die da so düster und abgestellt wirkend im Scheinwerferlicht lag, hatte nichts Bedrohliches mehr; die Menschen aber, die sie passierten, schienen zu Riesen mutiert zu sein.
Wie hatte es zu diesem »Wunder« kommen können? War wirklich alles allein auf eine missverständliche Äußerung eines überforderten Politbüromitgliedes hin geschehen?
Was hatte er denn gesagt, der Günter Schabowski, auf jener am Abend des 9. November vom Staatsfernsehen der DDR übertragenen, von ihm nur lustlos und zäh abgehaltenen Pressekonferenz? Er hatte über vieles geredet, der Mann mit dem langsam grau werdenden Igelhaarschnitt und dem nach unten fallenden, müden Bürokratengesicht, und am Ende einen Zettel gereicht bekommen, den er dann auch noch verlas. Zwar nur zögernd, weil er den Inhalt offensichtlich selbst nicht ganz verstand, aber doch bis zum Ende korrekt Wort für Wort. Der DDR-Ministerrat, so lautete die beiläufig verkündete Weltsensation, habe beschlossen, dass Privatreisen nach dem Ausland zukünftig ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden könnten; Genehmigungen würden kurzfristig erteilt.
In Frankreich sagt man in solchen Fällen: Da hat einer eine gute Gelegenheit zum Schweigen und Abwarten verpasst. Schabowski aber hatte weder schweigen noch abwarten oder irgendetwas überprüfen wollen. Er hatte funktioniert, wie ein Apparatschik zu funktionieren hat: Wird dir ein Zettel gereicht, verliest du den. Und das selbst dann, wenn du den Inhalt nicht so recht kapierst.
Die Journalisten horchten auf: Was stand denn noch auf diesem Zettel?
Um befreundete Staaten zu entlasten, die von der anhaltenden Ausreisewelle von DDR-Bürgern strapaziert würden, habe man sich entschlossen, alle Grenzübergänge von der DDR zur BRD und von OstBerlin nach WestBerlin zu öffnen. Das gelte für die ständige Ausreise und auch für kurze Besuche.
»Ab wann?«, rief einer der verdutzt lauschenden Reporter.
»Wenn ich richtig informiert bin«, so Schabowski zögernd, »dann gilt diese Regelung unmittelbar.«
Gemurmel wurde laut, dann hakte einer der Journalisten, der offensichtlich noch immer nicht so recht glauben wollte, was er gehört hatte, nach: »Und das gilt auch für Berlin?«
Schabowski, unsicher wie zuvor, blickte noch mal auf den ominösen Zettel. »Ja«, kam es dann, »das gilt auch für Berlin.«
Das war’s! Ein Windhauch, kaum spürbar, gab dem antifaschistischen Schutzwall der DDR, seit Monaten wacklig und einsturzgefährdet, den Rest. Gegen neunzehn Uhr waren jene befreienden Worte gefallen, eine halbe Stunde später, in der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens, wurde die Nachricht bekannt gegeben und erreichte in Windeseile fast jeden DDR-Bürger.
»Unmittelbar«, hatte Schabowski gesagt. Hieß das nicht »ab sofort«?
Man wollte es ausprobieren, und so stauten sich schon nach kurzer Zeit an den Grenzübergängen zu WestBerlin die Trabis und Wartburgs mehrere Kilometer lang, überholt von Zigtausenden, die zu Fuß die Grenze stürmten und lautstark auf die soeben erst verkündeten, aber mit sofortiger Wirkung geltenden Reiseerleichterungen verwiesen.
Die überforderten Grenzer konnten telefonieren, wohin und so lange sie wollten, eine vernünftige Direktive bekamen sie von nirgendwoher.
War diese neue Reiseordnung denn nun schon Gesetz?, fragten sie sich. Und brauchten die Massen, die sich da vor der Grenze versammelten, vor Grenzübertritt denn nun einen Pass mit Visum oder nur einen Pass? Oder reichte allein der Personalausweis?
Verwirrung, Chaos, Ratlosigkeit.
Inzwischen hatte man auch im Deutschen Bundestag in Bonn von Schabowskis Zettelverlesung gehört. Die Leute im Osten standen noch vor verschlossenen Schranken, da stimmte das begeisterte Bonner Parlament schon die Nationalhymne an. Einzig die Abgeordneten der Grünen fielen nicht mit ein. Offenbar war ihnen das Ganze noch zu unausgegoren.
Dann, gegen zweiundzwanzig Uhr, öffneten die von ihren
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