Auf der Sonnenseite - Roman
bei Fußball-Länderspielen die Bundesrepublik ebenfalls gern mit Deutschland gleichsetzten? Geduldig erklärte er den Schülern die Zusammenhänge, die zur Teilung Deutschlands geführt hatten, und sagte lächelnd, dass er schon immer in »Deutschland« gelebt habe. In Wahrheit jedoch war er voller Ungeduld. Er sehnte sich heim, wollte mitfeiern. Doch war er zu diszipliniert, brach die Tournee nicht ab, fegte weiter über die Autobahn – aber nun im Walzertakt – und winkte jedem der vielen DDR-Wagen, die ihm auf ihrer »Test the West«-Tour begegneten, fröhlich zu. Was für eine unverhoffte Chance! Für Berlin! Für Deutschland! Europa! Die Welt!
Er war nicht abergläubisch und lehnte jeden Gedanken an eine »Einwirkung von ganz, ganz oben« ab. An diesem Tag aber geriet er ins Zweifeln – es war mal wieder an einem 9. November passiert, dem Schicksalsdatum der Deutschen! Am 9. November 1918 brach in Berlin die Revolution aus, die den vierjährigen, so blutgetränkten Ersten Weltkrieg beendete. Am 9. November 1923 unternahm Hitler mit seinem braunen Anhang in München einen Putschversuch, der vorerst noch misslang. Am 9. November 1938, seit fünf Jahren an der Macht, starteten die Nazis ihre Pogromnacht gegen die jüdische Bevölkerung; der endgültige Beginn der in so viele Millionen Morde mündenden Judenverfolgung. Nun wieder ein 9. November! Ein verhasstes Bollwerk war vom Volk erobert worden – und war damit keines mehr! Alles nur Zufall?
Auf jeden Fall: Euphorie pur! Auch hier, in der Ferne.
In der Woche darauf, heimgekehrt von seiner Reise, bemerkte er, dass sich bei vielen die Freude schon wieder gelegt hatte. Verbrüderungsszenen zwischen den Berlinern aus beiden Teilen der Stadt fanden nicht mehr statt. Die Westler schimpften über zu volle Geschäfte und den Trabi -Gestank in ihren Straßen, die Ostler bangten vor der Invasion der Westler, wenn erst der Zwangsumtausch an der Grenze entfiel: Würden sie mit ihrer Ostmark vom Friseur denn überhaupt noch bedient werden, wenn die WestBerliner mit ihrer Westmark wedelten? Dank der billigen Ostpreise und des günstigen Wechselkurses würden die sich ihre Haare dann ja zum Gegenwert eines Kaugummis ondulieren lassen können.
Die Sektkorken-Idylle war beendet, durch die Stadt fegte wieder der Wind. Lenz’ Stimmung trübte das nicht. Frischer Wind war ihm lieber als Kalter Krieg.
War an diesem 24. Dezember 1989 irgendetwas anders als sonst?
In den Straßen, durch die Lenz fuhr, deutete nichts auf ein außergewöhnliches Weihnachtsfest hin. Nur so etwas wie eine besonders feierliche Stimmung lag über dem milden Grau dieses Winterabends, die Reklameschriften schienen heller zu leuchten, die Wagen vor und hinter ihnen »besinnlicher« zu fahren.
Vor dem Reichstag aber war Trubel. Die Parkplätze waren überfüllt und auch an den Straßenrändern standen die Pkw dicht an dicht. Lenz zwängte seinen Wagen in eine endlich entdeckte Lücke – Parkverbote galten an diesem Abend nicht – und ließ sich mit Hannah im Strom der ergriffen schauenden oder vergnügt lachenden Passanten in Richtung Brandenburger Tor treiben.
Das letzte Mal waren sie im Oktober hier gewesen; Stadtführung für eine österreichische Kollegin, die zuvor noch nie in Berlin war. Von einer Aussichtsplattform hatten sie zur Straße Unter den Linden hinübergeschaut und die Kollegin war sehr berührt gewesen. So habe sie sich eine geteilte Stadt denn doch nicht vorgestellt, gestand sie, dieses Ungetüm von Mauer ginge ja tatsächlich mitten hindurch …
An jenem inzwischen schon legendären 9. November wurde auf der Mauer am Brandenburger Tor getanzt. Wozu war die Krone denn fast zwei Meter breit? Aus Körpern wurden Leitern gebildet, und dann hüpften und sprangen sie auf dem Beton herum, all die Mauererklimmer, und konnten es nicht fassen, dass sie wirklich da oben standen. Ost- und WestBerliner umarmten sich, jubelten, lachten, weinten, tranken Sekt aus der Flasche und sangen »So ein Tag, so wunderschön wie heute« und »Auf der Mauer, auf der Mauer sitzt ’ne kleine Wanze … « Die ansonsten so radikal strengen und unliebenswürdigen Grenzschützer des Ostens, sie standen im Halbdunkel und schauten nur zu. Mit verschlossenen Gesichtern. Anfangs hatten sie die Jubler mit Wasserwerfern vertreiben wollen, dann mussten sie Befehl erhalten haben, alle Wasserhähne zuzudrehen und alles, was weiter geschah, nur zu beobachten. Ein Befehl, den sie befolgten, wie sie schon immer alle
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