Auf der Sonnenseite - Roman
Außerdem: All die Menschen aus Ost und West, wenn sie nach achtundzwanzig Jahren zum ersten Mal wieder durch dieses Tor gehen … Was machen sie für Gesichter? Was empfinden sie? Du wirst’s bereuen, wenn du das versäumst.«
Lenz ließ sich nur allzu gern überreden, verspürte er doch längst ein ungutes Gefühl. In der Gegenwart geschah Weltbewegendes – und noch dazu so Positives! – und er hockte in der trüben Vergangenheit und fand nicht heraus.
Sie zogen sich an und Stalin sprang und kläffte erfreut: Ein zusätzliches, unverhofftes Gassigehen mit Herrchen und Frauchen war das Allerschönste. Doch dann schüttelte Herrchen nur bedauernd den Kopf und aus dem munteren schwarzen Teufelchen wurde ein geknickt in der Ecke hockender, vorwurfsvoll blickender Engel der Unschuld. Dieses Kopfschütteln kannte er. Es bedeutete, dass seine Anwesenheit nicht gewünscht war und er den ganzen Abend allein verbringen musste. Nur die kleine Lampe im Flur würden sie ihm anlassen.
»Das musst du doch verstehen!« Tröstend kraulte Hannah ihm den Bart. »In dem Gedränge würden sie dich ja tottreten. Außerdem«, – sie lachte –, »so ein kleiner Stalin, gerade heute würde der ein bisschen sehr deplatziert wirken.«
Lenz war nicht in der Stadt an jenem 9. November 1989, an dem die Mauer fiel – so wie auch achtundzwanzig Jahre zuvor nicht, als sie gebaut wurde. Damals war er, noch nicht ganz achtzehn, mit den Jugendlichen aus dem Jugendwohnheim in den Ferien. In Lubmin, an der Ostsee. Bei strahlendem Sonnenschein in einer Sandburg liegend, ein kleines, quäkendes Transistorradio in der Hand, hatten sie von jener Abschottung des einen Teils ihrer Heimatstadt vom anderen erfahren. Als sie dann eine Woche später endlich heimkehren durften, war nur noch der weitere Ausbau der Grenzanlagen zu beobachten, alles andere war schon passiert.
Diesmal erreichte ihn die Nachricht auf einer Lesereise. Rund um Heidelberg und Mannheim war er unterwegs: Schulklassen, Bibliotheken, Buchhandlungen. Nach der Abendlesung hatte er in dem Hotelrestaurant noch etwas gegessen und danach in seinem Zimmer den Fernseher eingeschaltet, um sich vor dem Schlafengehen noch ein bisschen zu informieren über das, was an diesem Tag in der Welt so alles geschehen war. Ja, und da sah er sie dann, die Massen von jubelnden und ergriffen heulenden OstBerlinern, wie sie über die so plötzlich geöffneten Grenzübergänge in den Westteil der Stadt hinüberströmten. Anfangs glaubte er, einem Fernsehspiel aus der Zukunft zuzuschauen, doch begriff er rasch, dass es sich um nichts Inszeniertes handelte. Aufgeregt zwischen den Sendern hin und her schaltend, dämmerte ihm die wahre Tragweite des Geschehens, und so verfolgte er, immer wacher werdend, die halbe Nacht lang, was sich in seiner Heimatstadt abspielte.
War das denn wirklich möglich? Was war da nur passiert? – Und auch den Grenzübergang an der Bornholmer Straße hatten sie geöffnet? Der lag ja nur fünf Autominuten vom Schäfersee entfernt … Und, verdammt noch mal, er war wieder nicht dabei; alles wie achtundzwanzig Jahre zuvor!
Am Morgen, während der Weiterfahrt, im Autoradio die erregte Stimme des Reporters, dazu die bewegenden Worte des WestBerliner Bürgermeisters – da konnte Lenz nicht mehr anders, er fuhr rechts ran und heulte ungeniert.
Später, bei der Lesung in der Bibliothek, las er eine Erzählung vor, die den 13. August 1961 zum Inhalt hatte. An einem Tag wie diesem, so meinte er, gehöre sich eine solche Geschichte aus der Geschichte. Seine Zuhörer, fünfzehnjährige Jungen und Mädchen, lauschten interessiert. Doch erschüttert von dem, was in jenen Augusttagen geschehen und in dieser Nacht zu Ende gegangen war, waren sie nicht. Einer erfundenen Kriminalgeschichte hätten sie nicht weniger gespannt gelauscht.
Waren sie noch zu jung – oder lebten sie zu weit weg? Nach der Lesung versuchte er herauszufinden, was seine Gesprächspartner über die DDR wussten, und musste sich mit einer armseligen Ausbeute zufriedengeben. Neben vielem Falschen bekam er nur Gemeinplätze zu hören: Keine Westautos im Osten, keine schicken Klamotten, blödes Fernsehprogramm, nur Marmelade und Brot. Er stellte einiges richtig und erzählte, dass er einst selbst in der DDR gelebt habe. Da wollte ein Mädchen es ganz genau wissen: »Und wie kamen Sie nach Deutschland?«
Er nahm ihr diese Frage nicht übel. Weshalb sollte jenes Mädchen klüger sein als die Sportreporter von ARD und ZDF, die
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