Auf der Sonnenseite - Roman
anderes im Vordergrund: Was geschehen war, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Mauer, Stacheldraht und Betonbarrieren, über Nacht waren sie zu unnützen historischen Relikten verkommen. Kein Wunder, dass Lenz sich innerlich ein leises, triumphierendes Grinsen nicht verkneifen konnte. Welche Ironie der Geschichte! Der »antifaschistische Schutzwall«, gebaut, um ein Ausbluten der DDR zu verhindern – achtundzwanzig Jahre später musste er aus genau demselben Grund wieder niedergerissen werden!
»Wahnsinn!«, das in jenen Tagen am häufigsten gebrauchte Wort; Wahnsinn, dass so etwas möglich war; Wahnsinn, dass wir das miterleben dürfen!
Dankbarkeitsgefühle waren angebracht. War ja abzusehen, dass die deutsche Teilung über kurz oder lang zu Ende gehen würde. Die Frage, die Lenz sich stellte, aber lautete: Wem sollte sich diese Dankbarkeit zuwenden? Jeder Sieg hatte viele Väter.
Einer, der sich besonders laut seiner Zeugungskraft rühmte und immer schon gewusst haben wollte, dass es mal so kommen würde, war der westdeutsche Bundeskanzler, seine St. Gilgener »Urlaubsbekanntschaft«. Andere verwiesen auf die USA. Die harte Haltung des Westens, gerade auch in der Rüstungsfrage, sei es gewesen, die letztendlich gesiegt hätte. Viele, sehr viele priesen Gorbatschow, der die sowjetischen Panzer in den Depots gelassen habe, als die Demonstrationen in der DDR immer lauter und mächtiger wurden. Dort, im Kreml, wo es einst am kältesten war im Kalten Krieg, säße der wahre Maueröffner.
Lenz hatte seine eigenen Ansichten. Es hatte vieles zusammenkommen müssen, um die Ost-West-Welt so gewaltig zu verändern. Jene umsichtigen, tapferen Kirchen- und Menschenrechtsgruppen zum Beispiel, die trotz aller Stasi-Überwachungen und Nachteile im Berufsleben nicht aufgegeben hatten, gegen die Verhältnisse, unter denen sie lebten, zu protestieren, waren sie nicht die wahren Umstürzler? Oder die Leipziger mit ihren mutigen Montagsdemonstrationen. Wären sie nicht immer wieder bis an die Grenze dessen gegangen, was möglich war, und oft noch ein wenig darüber hinaus, hätte ihr Staat sich dann zu solchen Kompromissen zwingen lassen? Nicht zu vergessen jene westlichen Journalisten, die immer wieder über die DDR berichtet hatten. Im Westfernsehen hatten alle Thüringer, Mecklenburger, OstBerliner und auch fast alle Sachsen mitverfolgen können, wie elend es um ihren Staat bestellt war: Brachlandwüsten im Kohlerevier rings um Bitterfeld, die verfallenen Straßenzüge in Leipzig, der mutige Kampf der wenigen Oppositionellen gegen die Übermacht des SED-Regimes. Bilder, wie das Ostfernsehen sie nicht lieferte, weil kritische Perspektiven nicht gefragt waren in totalitären Diktaturen.
In allererster Linie jedoch, so Lenz’ feste Überzeugung, war jenen jungen Leuten zu danken, die diesem früh verkalkten Staat in so hellen Scharen davongelaufen waren und damit aller Welt offenbarten, dass sie ihm keine Chance mehr gaben. Was sonst hätte die Zaunkönige dazu bewegen können, ihren »Zaun« durchlässiger und damit menschenfreundlicher zu gestalten?
Vielleicht musste aber auch den Zaunkönigen »gedankt« werden. Weil sie ihren Absturz in die Bedeutungslosigkeit selbst provoziert hatten. Was sich nicht mehr bewegt, stirbt; wer immer nur an sich und seinen Machterhalt denkt, steht irgendwann allein da. Ein morsches Haus muss, wenn schon nicht abgerissen, so doch wenigstens umgebaut und nicht immer wieder nur neu gestützt werden, will man nicht eines Tages unter seinen Trümmern begraben werden.
Ein sehr zynisches Dankeschön? Na, wenn schon! Sollte der ehemalige Stasi-Häftling Manfred Lenz etwa noch Mitleid haben? Außerdem artikulierte er damit ja nur eine Binsenweisheit, und zwar eine, wie er mit Genugtuung feststellen konnte, die sich in diesen Tagen ständig neu bewies. Und das überall im östlichen Europa.
In Polen hatte eine furchtlose, starke Gewerkschaftsbewegung es gewagt, sich mit dem Staat anzulegen, und die alte Machtelite trotz aller über die Menschen verhängten Repressalien hinweggefegt.
In der Tschechoslowakei waren nach zwanzig Jahren Alexander Dubcek – der Vater des Prager Frühlings – aus der Verbannung zurückgeholt und zum Parlamentspräsidenten und der bewundernswert tapfere, regimekritische Schriftsteller und ehemalige Gefängnisinsasse Vaclav Havel zum Staatspräsidenten gewählt worden.
Rumäniens »Titan der Titanen«, das »Genie der Karpaten«, der »Sohn der Sonne« und
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