Auf der Sonnenseite - Roman
Befehlshabern im Stich gelassenen Grenzer endlich die Schleusen – wenn ein Mitglied des Politbüros eine solche neue Regelung verkündete, würde ja wohl alles seine Richtigkeit haben – und ein Strom von ungläubig strahlenden Menschen wälzte sich hinüber in die für sie bisher so schwer erreichbare Terra incognita. Blaue Trabi -Auspuffwolken blubberten in die kalte Westluft, wildfremde Menschen fielen einander in die Arme und tranken wonnevoll Brüderschaft. Schnaps, Wein, Bier und Sekt flossen in Strömen; die einen lachten, die anderen weinten, aber alle genossen sie diesen so unverhofft selig machenden Abend.
Mitten hinein in diesen Trubel – die Gegenbewegung! WestBerliner, die den Ostteil ihrer Stadt erkunden wollten, und das ganz ohne Visum und Zwangsumtausch von D-Mark in DDR-Mark.
War das denn nun auch erlaubt? Die Grenzer blickten noch ratloser.
»Wir wollen raus!«, ertönte es im Osten.
»Wir wollen rein!«, schrie man im Westen.
Und irgendwann marschierte man an den Grenzübergängen aneinander vorbei.
Sie hatten keinen Befehl, die Westler so einfach über die Grenze zu lassen, doch was sollten sie tun, die östlichen Grenzpolizisten? Sie standen da, mitten im gegenläufigen Grenzverkehr, und die Westler kamen einfach, fielen den ihnen entgegenströmenden Ostlern in die Arme, drückten den verblüfften Grenzern Blumen in die Hände oder steckten sie ihnen in die Läufe ihrer Maschinenpistolen. »Dit, mein Lieber, is die beste Munition!«
Was für eine Nacht! Die ganze Stadt ein feucht-fröhlicher Rummelplatz. Tanz ohne Ende! Auf der Mauer am Brandenburger Tor, auf dem Kudamm, in den unzähligen Kneipen des Westens.
Tags darauf ging die Party weiter. Zu Hunderttausenden strömten sie nun in den westlichen Teil ihres Heimatlandes, all die Menschen, denen das so viele Jahre lang verwehrt worden war. Ob im Süden oder im Norden, zu Fuß, per Rad, mit dem Auto oder der Bahn angereist, bevölkerten sie die grenznahen Städte. In Berlin traf man sich vor und auf der Mauer und am liebsten immer wieder hier, am Brandenburger Tor. Der Andrang war so groß, dass einige U-Bahnhöfe geschlossen werden mussten.
Vor den WestBerliner Banken lange Schlangen. Ein Begrüßungsgeld wurde ausgezahlt – pro Person einhundert D-Mark. Die Brüder und Schwestern aus dem Osten sollten nicht ganz mittellos durchs westliche Schlaraffenland laufen und nicht allein auf den für sie ungünstigen, offiziellen Umtauschkurs oder auf die wie Pilze aus dem Boden geschossenen, noch ungünstigeren Schwarzmarkt-Geldwechsler angewiesen sein. Innerhalb von zehn Tagen, so verkündete die Westpresse später stolz, seien dreihundertfünfzig Millionen D-Mark ausgezahlt worden.
Ein Handausstrecken, das nicht allen Ostlern gefiel. Stefan Heym, einer von Lenz’ ostdeutschen Kollegen, zuvor oft in Konfrontation zur offiziellen DDR-Politik, mokierte sich im Spiegel darüber, dass aus dem DDR-Volk, »das soeben noch edlen Blicks einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, eine Horde von Wütigen« geworden sei, »die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach glitzerndem Tinnef«. Dem Verkaufspersonal in den westlichen Supermärkten, in jenen Tagen nicht wenig gestresst, unterstellte er, voll Verachtung auf die Ostler an der Kasse herabzublicken.
Eine wahrhaft zynische Moralpredigt! Lenz, der Heym zuvor öfter in einem italienischen Restaurant in Kudamm-Nähe gesehen hatte, konnte nur entgeistert den Kopf schütteln. Wie durfte denn einer, der schon lange all das hatte, was andere zum ersten Mal zum Greifen nah sahen, so herablassend und wenig verständnisvoll sein? Monika Maron, ebenfalls DDR-Autorin, bezeichnete Heyms Äußerung denn auch treffend als »Arroganz der Satten«, die sich »vor den Tischmanieren eines Ausgehungerten ekelten«.
Ja, schon waren sie auf den Plan getreten, jene verträumten Ostalgiker, die in ihrer dem Ende zustrebenden Diktatur trotz aller Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen unentwegt das bessere Deutschland sehen wollten; Ärzte, die dem in seinen letzten Zügen liegenden Patienten noch immer nichts als Kinderkrankheiten attestierten.
Alles nur ein Irrtum? Ein kleiner Zettel – von wem verfasst? – überinterpretiert? Musste man sich da nicht fragen, was Geschichte überhaupt war? Ein zielgerichtetes Kontinuum – oder nur ein unentwirrbares Gespinst aus Ursache, Zufall und Absicht?
Etwas zum Nachdenken für stille Stunden. An diesem Heiligabend stand
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