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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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subjektiven Tempo von etwa zehn Sekunden (was immer das zu bedeuten hatte), und das Tempo schien sich stabilisiert zu haben. Anfang Juni veränderte sich die Uhr, gewann an Einzelheiten, die zuvor nicht vorhanden gewesen waren. Sie bestand nicht mehr nur aus einer Abfolge von schwebenden roten Ziffern, sondern hatte materielle Präsenz gewonnen, befand sich in einem Kunststoffbehälter im Holz-Design mit kleinen Klappbeinen. Ein perfekt ausgeführter Wecker, der im Nirgendwo schwebte. Mitte Juni zog sich die Uhr zurück, und die Anzeige hatte nur ein Viertel der früheren Größe. Fließend blühte ein ganzes Zimmer um sie herum auf. Die Uhr lag auf einem Nachtkästchen, neben einer Blumenvase. Herbstliches Sonnenlicht fiel durch das eine Fenster des Zimmers, gebrochen und gefiltert von Bäumen, die sich in einem sanften Windhauch bewegten.
    Es sah aus wie das Privatzimmer in einem Krankenhaus; bequem, aber nicht gerade luxuriös. Irgendwie auch altmodisch. Zu Füßen des Bettes stand ein Fernsehgerät auf einer Konsole aus grauem Metall. Der ganze veraltete Apparat steckte in derselben Kunststoffholzimitation wie der Wecker.
    Der Fernsehapparat schaltete sich ein.
     
    »Scheiße«, sagte Rawlinson.
    Muller hörte, wie die Metallbolzen einer nach dem anderen brachen, es klang wie eine Reihe von Gewehrschüssen, die beinahe zu knapp hintereinander kamen, als dass er sie unterscheiden konnte. Das Jaulen gequälten Metalls war zu hören, als die vergitterte Seite des Zugs nachgab, unter dem Druck des Mastviehs dahinter wie eine berstende Staumauer umgelegt wurde. Was folgte, war eine Gezeitenwelle von zentnerschweren Tieren; Kühe strömten in einem ununterbrochenen braunen Strom heraus. Erst jetzt wurde Muller klar, wie dicht diese Kühe in den Zug gepackt worden waren. Die ersten drei oder vier Tiere hatten keine Zeit, hinunterzuspringen, ehe sie von der Rindvieh-Springflut überrollt wurden. Sie fielen einfach hinaus und verschwanden unter den nur verschwommen auszumachenden Hufen der anderen Kühe. Über dem Widerhall des Donnerns hörte Muller eine Kakophonie des Schnaubens – und – ganz schwach – etwas anderes. Dieses andere war ein Laut, den er von Tieren dieser Art nicht erwartet hätte: eine Art Quieken oder Weinen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, wäre es ihm menschlich vorgekommen.
    Rawlinson war den Rindern gerade noch rechtzeitig ausgewichen, und jetzt unternahm er einen vergeblichen Versuch, die Flut mit dem Rinderstachelstock aufzuhalten, ein Tun, dessen einzige Folge die zu sein schien, dass die geflüchteten Tiere noch mehr in Wut und Panik gerieten.
    Muller blickte auf seine Armbanduhr. Jetzt, dachte er, war der richtige Augenblick gekommen, das zu tun, wozu er hergekommen war, und die Kühe würden eine ausgezeichnete Ablenkung darstellen.
    Er griff in die Jackentasche, holte ein Handy hervor und wählte.
     
    Auf dem Bildschirm war einen Augenblick lang ein Logo sichtbar, aber keines, das Sapphire kannte. Dann blickte sie auf einen Mann im Anzug, der sie von einem Schreibtisch aus ansah, die Hände ernst vor sich verschränkt. Der Kerl war in den Sechzigern, aber gut erhalten; gute Bräunung. Kannte sie ihn von irgendwoher? Das allgemeine Gehabe von paternalistisch übertriebener Aufrichtigkeit erinnerte Sapphire an eine Präsidentenansprache. Vielleicht schickte sich der Bursche an, ihr zu verkünden, dass ein paar Kerle in Kopftüchern sie mit Atombomben belegt hatten.
    »Sapphire«, sagte er. »Mein Name ist Leitner – Sie erinnern sich an mich, nicht wahr? Ich war da, als Sie damals im Jahre ’08 eingekühlt wurden.«
    »Ja, ich erinnere mich an Sie. « Sie war nur gelinde überrascht, dass ihr das Sprechen so leicht fiel. Für jede andere Einzelheit schien gesorgt worden zu sein, daher wäre es merkwürdig gewesen, wenn sie etwas so Grundlegendes übersehen hätten. »Wann haben Sie sich das Kinn begradigen lassen?«
    »Vor langer Zeit, Sapphire.« Er lächelte, es war beinahe als handele es sich eine Übung, um die umgeformte Skelettstruktur seines Kiefers zu demonstrieren. »Und ich würde mit Ihnen gerne über die alten Zeiten plaudern, aber ich fürchte, es gibt da so etwas wie eine …« Leitner zögerte, »oder ist das zu hart?«
    »Sagen Sie mir lieber zuerst, worum es geht. Ich bin noch immer eingefroren, nicht wahr?«
    »Genau«, sagte Leitner. »Aber es ist nicht so einfach. Es hat einige Veränderungen gegeben, seit Sie ins Eis kamen – Ereignisse, die in keinem der

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