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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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braun. Er war schwarz. So schwarz, wie ein Mensch nur sein konnte.
    Aber jetzt, in dieser Dunkelheit, gab es keinen Unterschied zwischen ihnen beiden. Und für die Weißen auch nicht am Tag. Für die waren sie beide colored, waren Farbige, waren Nigger. Und dennoch, und vielleicht gerade deshalb, und allem zum Trotz, würden sie beide es schaffen, dass es weder bei Tag noch bei Nacht, weder hier oben in Harlem noch unten in Downtown, weder an der Fifth Avenue noch am Broadway irgendeine Bedeutung haben würde.
     
    Und dann war es Tag. Ganz plötzlich. Ganz überraschend. Ein heller, klarer, sonniger Tag. Er stand am Fenster, immer noch nackt, immer noch schwarz und mit glänzender Haut, und er lachte und schob das morsche Schiebefenster weiter nach oben und klemmte es fest mit einem zusammengedrehten Stück Zeitungspapier.
    Ein kühler Wind wehte in den Raum und vertrieb den feuchten, muffigen Dunst und alle ihre erschreckenden Träume. Er zog ihr blitzschnell das zerwühlte Laken fort, ließ sich schwer auf ihren schmalen Körper fallen, lachte immer noch und küsste sie wach, auf die blauschwarz schimmernden Spitzen ihrer Brüste, auf ihren langen, sehnigen Hals, auf ihre vollen, breiten Lippen. Und sie lachte zurück und kreischte übermütig, gurrte voller Sinnlichkeit, wehrte sich, stieß ihn fort und klammerte sich an ihn, alles zur gleichen Zeit.
    »Wir kommen zu spät!«, rief sie. »Wir verlieren unseren Platz beim Training!« Aber vielleicht rief sie es auch gar nicht, dachte es nur, vergaß es wieder in seiner raschen und leidenschaftlichen Umarmung.
    Wir lieben uns!, dachte sie. Lieben uns immerzu! Bei Tag. Bei Nacht. Es war ein großes Glück, dass sie sich gefunden hatten. Unter zehn Millionen dieser Stadt. Unter den drei Millionen hier oben in Hartem. Und das gab ihr die Kraft, an eine Zukunft zu glauben.
    Das Wasser lief immer noch nicht, der Stuhl lag immer noch umgestürzt in der Ecke, und unten auf der Straße blieb immer noch alles still.
    Sie lehnte sich weit hinaus, während sie in ihr winziges weißes T-Shirt schlüpfte. Aber da war kein Mensch zu sehen. Nirgends! Niemand war auf der Straße. Kein einziger Mensch weit und breit. Weder hier unten vor dem Haus noch vor den nächsten drei, vier Blocks.
    Kein einziges Fahrzeug kam die Straße herauf oder herunter. Die Autos parkten wie immer auf dem von Glasscherben übersäten Asphalt, einige standen mit offenen Türen mitten auf der Kreuzung, als seien sie in Panik verlassen worden.
    Ob ich es ihm sage?, dachte sie. Ob ich ihn frage? Ob er dann denkt, ich sei verrückt? Ob er es selbst schon bemerkt hat? Und nun auch nicht wagt, darüber zu reden? Weil es unglaublich ist. Unfassbar. Weil doch gar nicht sein kann, was ich sehe …
    Das dachte sie alles und schwieg, schlüpfte in ihren Slip, in die glänzenden, blauen Boxer-Shorts, in die abgetretenen Turnschuhe.
    Er wartete bereits an der Tür, ungeduldig und voller Entschlossenheit, diesen Tag zu meistern, fasste sie an der Hand, zog sie hinter sich her, und so stürmten sie die Treppe hinunter, immer noch fröhlich, albern, atemlos, bis hinaus auf die Straße.
    Aber dort unten hatte sie längst aufgehört zu lachen.
    Die Türen zu allen Wohnungen hatten offengestanden. Das war nicht ungewöhnlich. Die Philips, ein Stockwerk unter ihnen, hatten sieben Kinder. Da war ein ständiges Kommen und Gehen. Und gegenüber, in der Wohnung der Puertoricaner, da lebten mehr als zehn Leute. Aber die Korridore, die Flure waren leer!
    Und Missis James saß nicht auf ihrem zerfledderten Korbstuhl. Sie schaffte immer nur die halbe Treppe. Dann machte sie Pause. Die dauerte mitunter einen ganzen Tag. Da saß sie dann in ihrer unendlichen Fülle mit ihrem glänzenden schwarzen und immer freundlichen Gesicht in ihrer Ecke und schwatzte mit jedem, der vorbeikam.
    Das Treppenhaus war immer erfüllt von ihrem gutturalen Südstaaten-Singsang. Und es war immer voller Leben.
    Nur heute war es tot. Leer und still und tot, und sie war froh, als sie draußen waren in der frischen Luft.
     
    Der Wind kam vom Hudson River herauf und trieb Papier und Plastikfetzen vor sich her. Und vorn an der Kreuzung, zwischen den so erschreckend zufällig abgestellten Wagen, drehten die Böen den Abfall zu Spiralen, trieben ihn hoch bis in den dritten, vierten Stock, bis an den Dachsims der rußgeschwärzten Brownstone-Häuser mit ihren bizarren, rostigen Feuertreppen.
    Sie liefen immer noch Hand in Hand, trabten dem Wind entgegen, hinüber

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