Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
begreift man allerdings auch – schmerzlich genug –, was für einen geringen Stellenwert der Rest der Welt in den Vereinigten Staaten genießt. Der Friedensnobelpreis kommt in dem Museum für Jimmy Carter, das eher ein Schrein ist, nur ganz am Rande vor.
In der Nähe von Plains liegt Andersonville, einer der traurigsten Orte in den USA. 14 Monate lang, von 1864 bis zum Ende des Bürgerkrieges 1865, wurden hier Kriegsgefangene der Union von den Konföderierten interniert. Insgesamt 45000 – von denen fast 13000 starben, die meisten an Unterernährung und an Krankheiten infolge der katastrophalen sanitären Verhältnisse. Die Südstaatler ließen ihre feindlichen Brüder nicht absichtlich verhungern. Sie hatten selbst nichts mehr. Auf dem Friedhof stehen kleine, weiße Grabsteine ganz eng beieinander. Als die Zahl der Toten pro Monat die 3000 überstieg, konnten sie nicht mehr in Einzelgräbern bestattet werden. Sie wurden einfach nebeneinander in dieselbe Grube gelegt, bevor Erde die Leichen bedeckte.
Auf dem heute trügerisch schönen Gelände des ehemaligen Gefängnisses mit hohen Bäumen und grünem Rasen gedenken mehrere Nordstaaten auf Denkmälern ihrer Gefallenen. Daneben hat 1998 das Nationalmuseum für Kriegsgefangene seine Tore geöffnet. Der Zweite Weltkrieg. Korea. Vietnam. Irak. Die Vereinigten Staaten haben keinen Krieg auf eigenem Territorium verloren, aber viele Familien dieses Landes mussten dennoch Angst und Trauer ertragen. Ernst ist diese Stätte, würdig und ruhig.
Im Nationalmuseum für den Zweiten Weltkrieg in New Orleans konnte man den Eindruck gewinnen, vor allem Waffensysteme und einige wenige Soldaten hätten damals gegeneinander gekämpft. Die Zivilbevölkerung der Krieg führenden Staaten blieb fast unerwähnt. Im texanischen Canyon hatte ich mir im Pionier-Museum eine Ausstellung angeschaut, in der das putzige Comic-Gesicht von Kilroy immer wieder an Exponaten und Erläuterungen zum Zweiten Weltkrieg auftauchte. Zu meiner eigenen Überraschung kränkte mich diese Verniedlichung des Schreckens. Als Europäerin, nicht als Deutsche.
Ganz anders die Atmosphäre in Andersonville. Hier werden weder Kilroy noch Calamity Jane gefeiert. Hier herrscht Trauer – und Achtung vor den Opfern. Warum bloß ist es für die USA so schwer zu verstehen, dass Krieg auch anderswo auf der Welt nicht als Waffenschau oder als Riesenspaß betrachtet wird?
Im nahe gelegenen Americus will ich übernachten. Dort treffe ich Viola Herrera. Sie ist kürzlich aus Texas hierhergezogen, und dort hatte es die 45-Jährige vorübergehend zu einer lokalen Berühmtheit gebracht. Weil nämlich ihr Sohn und ihr Ehemann gleichzeitig im Irak stationiert waren. Der Sohn als Fahrer, der Mann als Offizier hinter einem Schreibtisch.
Viola weiß, was Angst ist. Eines Tages erfuhr sie aus der Zeitung, dass der Beifahrer ihres Sohnes bei einem Anschlag getötet worden war. Wie es ihrem Kind ging – das wusste sie nicht. Damals hat sie ihren Mann angerufen und ihn angeschrien, sie habe noch nie, niemals verlangt, dass er seine Stellung ausnutze, um der Familie eine Sonderbehandlung zu verschaffen. Aber er werde jetzt – jetzt sofort! – herausfinden, ob auch dem Sohn etwas zugestoßen sei. Drei Stunden später die erlösende Nachricht: Alles in Ordnung, er ist wohlauf.
Inzwischen sind beide Männer wieder in den USA. Schon seit einiger Zeit, deshalb müssen sie demnächst vermutlich beide wieder in den Irak. Eigentlich spricht Viola ungern über das Thema. Sie fürchtet, dass kritische Äußerungen ihrer Familie schaden könnten. Das möchte sie vermeiden, und ohnehin sei sie unpolitisch. Aber dann bricht es aus ihr heraus: Die Regierung behaupte immer, sie sorge für die Truppen. Aber die Soldaten müssten viel zu lange raus, in viel zu kurzen Abständen. Man solle sich nur mal die Scheidungsraten anschauen: explodierend! »Wie können die Verantwortlichen unter diesen Umständen behaupten, dass sie unsere Leute unterstützen?«
Viola Herrera ist keine Rebellin, im Gegenteil. Wäre ihr Sohn damals getötet worden – sie hätte es akzeptieren können. »Er hätte einen ehrenvollen Tod gehabt. Natürlich wäre ich traurig gewesen, natürlich hätte ich geweint. Aber ich wäre auch stolz gewesen.« Die USA seien schließlich auf der Bereitschaft gegründet worden, das eigene Blut für die Freiheit zu vergießen, sagt die mexikanische Einwanderin der dritten Generation. Diese Gefühle und Gedanken kann ich nicht
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