Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
sind es nicht einmal mehr 300000. Vom Niedergang der Schwerindustrie, der in den Fünfzigerjahren begann, hat sich der größte Teil dieses ersten Industriegebietes der USA entlang der Großen Seen niemals erholt. Bis heute wird die Region abfällig Rostgürtel genannt.
»Die Steuern sind zu hoch«, sagt Dan Clark. »Ich glaube, die Steuern in New York sind die höchsten in den ganzen USA.« Da sei es kein Wunder, dass die Unternehmer abwanderten. Die Klage über zu hohe Steuern klingt vertraut in meinen Ohren – nicht nur weil sie in Deutschland seit Jahren fast jeden Wahlkampf beherrscht. Auch hier in den USA reagieren Gesprächspartner auf das Wort Steuern immer wieder so, als handele es sich dabei um eine Art legalen Raubüberfalls.
Selbst der Hummerfischer Kirk Olsen, der sich ja nicht für Politik interessieren will, bekam bei diesem Thema rote Backen. Vor 35 Jahren habe sein Vater ein Stück Land für damals ungefähr 35000 Dollar gekauft, erzählte er. »Nun erhöht die Stadt einfach jedes Jahr die Grundsteuer, auf inzwischen 24500 Dollar.« Das Grundstück des Vaters sei inzwischen, wie er schätzte, ungefähr 1,3 Millionen Dollar wert. Eine eindrucksvolle Summe – zumal für jemanden, der es jahrelang nur knapp geschafft hat, die Familie über Wasser zu halten. Aber dass diese Wertsteigerung mit einer kontinuierlichen Verbesserung der Infrastruktur zusammenhängt, die aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, wollte Kirk Olsen nicht gelten lassen: »Die Grundsteuer ist einfach unfair.«
Auch Rita und Dan sehen in Steuern vor allem einen Hemmschuh der wirtschaftlichen Entwicklung. Dabei könnte man auch eine ganz andere Rechnung aufmachen. In den USA fließen kaum öffentliche Mittel in die Industrieförderung: nur 0,2 Prozent des Staatshaushalts. In Deutschland sind es immerhin 14 Prozent. Der feste Glaube, der Markt alleine werde es schon richten und sowohl Steuern als auch staatliche Wirtschaftspolitik stünden im Widerspruch zum Ideal der Freiheit, lässt Unternehmer wie deren Angestellte eben ziemlich allein, wenn die ausländische Konkurrenz günstigere Produktionsbedingungen bietet.
Das Ehepaar aus Buffalo hält derlei Überlegungen für Unfug. Sie sind überzeugte Republikaner und glauben unbeirrt an den völlig freien Markt. Immerhin hat sich in den letzten Jahren die Lage in ihrer Heimatstadt endlich etwas verbessert. In den Bereichen der Genforschung, der Bioinformatik und im Gesundheitswesen sind neue Arbeitsplätze entstanden. Seit einigen Monaten liegt die Arbeitslosigkeit unter dem Durchschnitt des Bundesstaates – erstmals seit Jahrzehnten. Und ohnehin bekümmert es Rita und Dan zwar, dass ihre Heimat so heruntergekommen und verfallen ist. Aber sie selbst müssen sich keine Sorgen machen. Sie leben in komfortablen Verhältnissen.
Dan Clark war früher leitender Angestellter bei einer Firma, die Flugsicherheitssysteme herstellt. Gerade hat das Paar, das seit 24 Jahren in jeweils zweiter Ehe verheiratet ist, ein neues Haus gekauft. Vier Monate des Jahres verbringen die beiden in Florida. Eigentlich würden sie gerne ganz dorthin ziehen, aber fünf der sieben Kinder und die meisten der 16 Enkel leben in New York. Deren Anziehungskraft ist größer als die von schönem Wetter.
Die beiden scheinen ein besonderes Talent dafür zu haben, sich das Rentnerdasein nett zu gestalten. Er vertreibt sich die Zeit als Amateurfunker, sie fertigt Patchworkdecken an. An einer dieser Decken, die sie ihrem Sohn zur Silberhochzeit geschenkt hat, hat sie über ein Jahr gesessen. Dafür hat sie kürzlich auf einer regionalen Messe einen Preis gewonnen, und um den abzuholen, sind die beiden übers Wochenende nun hierher gereist. Sie reisen überhaupt gern: Sie waren schon in Kenia, in Italien, in Bangkok. »Ich würde ja sehr gerne mal die Pyramiden sehen«, meint die 73-jährige Rita. »Aber da habe ich Angst vor Terror. Vor ein paar Jahren hat es doch in Ägypten mal so einen furchtbaren Anschlag auf Touristen gegeben.« Als ich darauf hinweise, dass es vor einigen Jahren auch einen ebenfalls furchtbaren Anschlag in New York gegeben hat – der sogar kürzer zurückliegt – und man die Reise dorthin ja dennoch wage, lachen beide gutmütig und meinen, das Argument habe etwas für sich. Sie wollten es sich noch mal überlegen.
Gelassene Toleranz strahlt dieses Ehepaar aus. Dabei schimpfen die beiden viel. Nicht nur auf die hohen Steuern, sondern gerne auch auf Präsident Bush und den Irakkrieg und
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