Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
hier bekommen und erreicht. Aber ein Leben ohne Komplikationen und Konflikte? Das nicht.
Zweites Kapitel Goldene Vergangenheit und die Angst vor dem Untergang
Philemon und Baucis heißen im 21. Jahrhundert Rita Huber und Dan Clark, sitzen vor ihrem Motelzimmer in dem kleinen Ort Palatine Bridge, schauen in der Abenddämmerung über den Fluss Mohawk und trinken eine Flasche Rotwein. In dieser entspannt wirkenden Zweisamkeit haben sie durchaus noch Platz für einen Gast. Ich sei aber weit weg von zu Hause, ruft mir Rita zu und deutet auf das Virginia-Nummernschild meines Leihwagens. Ob ich nicht auch Lust auf ein Glas Wein hätte? Und ob.
Auf der Fahrt hierher in den Bundesstaat New York hatte Neuengland mit einer berauschenden Herbstfärbung noch einmal gezeigt, wie schön es ist. In der Nähe von Freeport hielt ich an einem Antiquitätengeschäft an, das eher ein kleiner Trödelladen war. Die Tür stand weit offen, das Radio lief. Niemand war zu sehen. Nichts wirklich Wertvolles befand sich im Verkaufsraum, aber es gab doch zahlreiche Hinweise auf die Existenz einer gediegenen bürgerlichen Gesellschaft, die hierherträgt, was nicht mehr gebraucht wird. Alte gebundene Kinderbücher. Kristallgläser. Einzelteile eines Silberbestecks. Vor der Tür standen viele Gartenmöbel. In einem der Regale entdeckte ich das alte Küchengeschirr meiner Großmutter. Ich drehte den Teller herum: Tatsächlich, aus Deutschland. Die USA sind eben ein Einwandererland.
Flohmärkte und Trödelläden verraten viel über das soziale Niveau einer Gesellschaft. Was gilt als bewahrenswert, was wird einfach weggeworfen, was hat einen Wiederverkaufswert? In manchen Gegenden von Brandenburg gibt es Flohmärkte, auf denen vor allem alte, abgetragene Kinderkleidung und gebrauchte Videokassetten zu finden sind. Keine Schätze vom Dachboden der Großtante. Das Angebot an diesen Verkaufsständen zeugt beredt von der Abwanderung des gehobenen Bürgertums aus der DDR, meist lange vor dem Fall der Mauer. Der Trödelladen in Maine erzählt von Wohlstand und Geborgenheit.
Nicht nur wegen des Warensortiments. Etwa zehn Minuten habe ich mich in dem Geschäft aufgehalten und zwischendurch auch mal draußen nach dem Händler gesucht. Vergeblich. Er war einfach nicht da. Schließlich fuhr ich weg. Ich hätte auch die Kasse mitnehmen können. Der Nordosten der Vereinigten Staaten ist die Region mit der niedrigsten Kriminalitätsrate des Landes, da erwartet man vielleicht auch von der Laufkundschaft keine kriminelle Energie.
In New York wird das Klima rauer. Wenn der Staat unabhängig wäre, dann läge er im Hinblick auf seine Wirtschaftskraft weltweit hinter Südkorea an 16. Stelle. Er hat das drittgrößte Bruttoinlandsprodukt der USA nach Texas und Kalifornien, die Bevölkerung verfügt über ein durchschnittliches Jahreseinkommen von über 50000 Dollar. Platz fünf in der nationalen Rangliste. So weit die Statistik. Die Realität ist weniger eindeutig – und weniger erfreulich.
»Deprimierend«, finden Rita Huber und Dan Clark die Gegend, und ich verstehe, was sie meinen. Die Statistik wird natürlich von der reichen, gewaltigen Stadt New York aufgehübscht. Aber hier oben im Norden des Bundesstaates sind die Häuser ärmlicher als in Neuengland. Nicht mehr Herrensitze prägen die Szenerie, stattdessen Gebäude, von denen Farbe und Putz abblättert. Manche Häuser sind verrammelt, Fenster und Türen zugenagelt. Einige sind in sich zusammengestürzt: Ruinen der Moderne. Gelegentlich steht ein optimistisch wirkendes Schild an der Straße: »Zu verkaufen«. Bei anderen Häusern hat man das Gefühl, dass die Eigentümer selbst diese Hoffnung längst aufgegeben haben. Immer wieder kommt man an einer stillgelegten Fabrik vorbei. Unterwegs bin ich durch die Stadt Amsterdam gekommen, die früher Sitz mehrerer Teppichfirmen war, aber die sind schon lange fortgezogen. Das einst gewiss glitzernde, monumentale Einkaufszentrum am Fluss ist geschlossen. Nur die Ruhmeshalle für professionelle Wrestler kann man noch besichtigen. Sie sieht von außen wenig einladend aus.
»In Buffalo ist die Lage noch viel schlimmer«, sagt Rita. »Die Leute verlassen die Stadt und die ganze Gegend. Sie gehen dahin, wo das Geld ist und wo es Arbeit gibt.« Buffalo ist die Stadt, aus der das Ehepaar stammt, etwa 380 Kilometer von Palatine Bridge entfernt, in unmittelbarer Nähe der Niagarafälle. Als John Steinbeck durchs Land fuhr, lebten dort noch mehr als 530000 Einwohner. Heute
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