Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
wird.
Motels und billige Lokale mit riesigen Büfetts, bei denen vor allem die gigantische Menge der geschmacksfreien Lebensmittel zählt, weisen den Weg zum Naturwunder. Das wird abends von Kanada aus in verschiedenen Farben angestrahlt – offenbar traut die Tourismusindustrie den Wasserfällen nicht zu, ohne künstliche Hilfsmittel nur aus sich heraus zu wirken. Stoßstange an Stoßstange schiebt sich eine Autoschlange zur kanadischen Grenze, um die Attraktion auch noch aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Dort trifft sie auf die Touristen von der anderen Seite, die dasselbe wollen. Außerdem kann man von beiden Staaten aus mit Schiffen an die Wasserfälle heranfahren. Mit ungefähr 20 Millionen Besuchern wird in diesem Jahr gerechnet, Tendenz steigend.
Mir geht das Getöse auf die Nerven. Ich will hier weg. Zum ersten Mal beunruhigt mich die Subjektivität der Auswahl nicht, die diese Reise mit sich bringt, sondern ich empfinde sie als befreiend. Niemand zwingt mich schließlich, hier mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Ich kann einfach weiterfahren.
Was ich dann auch tue, an einen Ort, der ganz gewiss niemals zum Anziehungspunkt für Massentourismus wird: in ein Motel in Indiana, unmittelbar an der Autobahn, irgendwo zwischen Detroit, Chicago und Cleveland. In Cleveland habe ich mich ein wenig umgeschaut, obwohl ich ja die großen Städte eigentlich vermeiden will. Aber ich denke, dass man in dieser Region wenigstens eines der ehemaligen Industriezentren gesehen haben muss, die über Jahrzehnte hinweg hilflos dem langsamen Verlust der Existenzgrundlage ausgeliefert waren, wenn man überhaupt ein Gefühl für die Stimmung hier am Rostgürtel bekommen will.
Cleveland in Ohio ist eine der Städte, denen innerhalb von 50 Jahren knapp die Hälfte ihrer Bevölkerung davongelaufen ist. 1950 hatte sie noch deutlich über 900000 Einwohner, heute sind es rund 450000. Arbeiter, die eine Alternative hatten, zogen fort – wer blieb, waren die Hoffnungslosen, die Mutlosen, diejenigen, die keine oder nur eine schlechte Ausbildung hatten und woanders für sich keine Chance sahen.
In den letzten Jahren sind allerdings neue Arbeitsplätze entstanden, vor allem im Gesundheitswesen, in der Forschung und im Technologiesektor. Ungelernten Kräften, die einen Job suchen, nutzt das wenig. Wie weit die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklafft, kann man hier in geringer Entfernung voneinander beobachten.
Das Zentrum leuchtet. Es ist schmuck renoviert worden, und es wird auch noch weiter daran gebaut. Alle großen Luxushotels sind vertreten. Cleveland, direkt am Eriesee gelegen, präsentiert sich wieder als Ziel für eine attraktive Städtereise.
Wenige Kilometer weiter sieht das Bild anders aus. Ganze Straßenzüge sind verlassen, die Häuser verfallen. Wenn die Spirale erst einmal begonnen hat, sich abwärts zu drehen, dann geht es rasch tief bergab: In ein heruntergekommenes Viertel will niemand ziehen. Die Hauseigentümer finden also keine Käufer für ihre Immobilien, haben aber nicht das Geld oder die Kraft, sie instand zu halten. Zehn Prozent der Häuser in Cleveland stehen leer. Es gibt hier mehr Zwangsversteigerungen als so gut wie überall sonst in den USA.
Unter Verbotsschildern »No loitering – nicht herumlungern« lungern schwarze Jugendliche herum. Die meisten rauchen und halten Bierdosen in der Hand. Viele Spirituosengeschäfte, viele Pfandleihen, viele Möglichkeiten, einen schnellen »Zahltag-Kredit« zu bekommen. Wenn´s denn einen Zahltag gibt. Viele Kirchen. Baptisten, Adventisten, Presbyterianer. Das erinnert mich an Slums in Afrika: Dort, wo die Hoffnung auf ein besseres Leben im Diesseits erloschen ist, ist die Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits besonders groß.
Eine Übernachtung in einem der kleinen Motels entlang der Hauptstraße kostet zwischen 35 und 38 Dollar – ein Spottpreis für eine Großstadt in den USA. Allerdings müssen sich die Gäste eine strenge Behandlung gefallen lassen. »Bargeld im Voraus« steht als Willkommensgruß an der Rezeption. Und: »Kein Herumlungern in der Lobby.« Und: »Absolut keine Besucher.« Beim Hinausgehen grüße ich einen Mann vor dem Eingang. Er schaut mich perplex an, fasst sich aber schnell: »Hamse mal ´nen Quarter?«
Die Pizzeria, in der ich eine Kleinigkeit essen will, ist leer. Bis auf einen jungen, schwarzen Mann mit Pistole. Bedroht fühle ich mich nicht: Die Pistole ist an einem Spielautomaten befestigt und der Mann ist vollauf
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