Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
beschränkt sich fast überall demonstrativ auf das Allernötigste. Ich glaube, wenn ich plötzlich drei Arme oder zwei Köpfe gehabt hätte – die meisten Angestellten hätten nicht mit der Wimper gezuckt. Das Signal ist eindeutig und landesweit dasselbe: Solange man nicht randaliert – oder eben gar mordet –, werden hier keine Fragen gestellt. Und wenn beide Seiten Lust auf einen Schwatz haben, dann muss der Gast den Anfang machen.
Die Ausstattung der Motels ist bequem. Fernseher, einfache Toilettenartikel wie Shampoo und Seife, ein Radiowecker, eine Kaffeemaschine, ein Kühlschrank und eine Mikrowelle sind selbst in den Zimmern der billigeren Ketten fast immer vorhanden. Außer in den Feriengebieten an den Küsten gehen die Betreiber offenbar davon aus, dass die Gäste auch keinerlei andere Bedürfnisse haben als eine möglichst gesichtslose Übernachtungsmöglichkeit. In New Mexico habe ich in einem wunderschönen Tal übernachtet, das Motel war umgeben von mächtigen Bergen. Aber alle Fenster führten auf den Parkplatz. Über die Gestaltung der verschiedenen Parkplätze könnte ich ein ganzes Kapitel schreiben, so viele habe ich gesehen. Das wäre allerdings wohl ebenso langweilig wie der Anblick.
In mancher Hinsicht erfüllen Motels in den USA heute dieselbe Funktion wie sie früher Stadtmauern erfüllt haben – wenngleich sie, zugegeben, für Reisende viel mehr Komfort bieten. Aber beide erreichen dasselbe, wenn auch im Falle der Motels vermutlich unbeabsichtigt: Fremde werden von den Einheimischen ferngehalten. Diese unendlich praktischen, unendlich uniformen Herbergen liegen oft in Gewerbegebieten, wenige hundert Meter von der nächsten Autobahnauffahrt entfernt. Ganz in der Nähe von Schnellrestaurants, ziemlich weit weg von jenen Kneipen der Innenstadt, in denen die lokale Bevölkerung verkehrt. Will man wirklich die Mühe auf sich nehmen, nach Einbruch der Dunkelheit diese Kneipen noch zu finden? Ach nein. Heute nicht mehr. Vielleicht morgen. Man muss gar nicht Fernfahrer sein, um dieses Land durchqueren zu können, ohne je mit Ortsansässigen zu reden.
Möglicherweise hat nicht nur der Streit im Nachbarzimmer, sondern auch die Freude von Harold Patton darüber, dass er eine Waffe besitzen darf, an diesem Abend im Autobahn-Motel in Indiana meine Mordfantasien beflügelt. Jedenfalls beschäftigt mich das Gespräch mit Patton so nachhaltig, dass ich mich nun mit jemandem unterhalten möchte, der Gewehre und Pistolen verkauft. Das ist nicht schwierig. Ein Waffengeschäft lässt sich fast so leicht finden wie ein Supermarkt.
Ich finde meines in dem kleinen Ort White Cloud in Michigan. Über eine Million lizenzierte Jäger gibt es in diesem Bundesstaat, der aus zwei Halbinseln besteht und an vier der fünf Großen Seen grenzt. Mehr als die Hälfte des Territoriums ist von Wald bedeckt. Michigan bietet nicht nur ausgedehnte Jagdgebiete, sondern ist auch der drittgrößte Produzent von Weihnachtsbäumen in den USA. Fast 200000 Arbeitsplätze gibt es in der Tourismusindustrie, die Jagd spült jährlich zwei Milliarden Dollar in viele verschiedene Kassen.
Die scheinen bitter nötig gebraucht zu werden. Dass die Situation in der Autostadt Detroit dramatisch ist, hatte bereits Kevin Williams erzählt: »Sie fanden Cleveland deprimierend? Detroit ist viel schlimmer.« Er ist nach Chicago gezogen, um Arbeit zu finden: »Das Beste, was ich je getan habe.« Er ist nicht der Einzige, der das so sieht. Auch Detroit hat seit 1950 etwa die Hälfte seiner Einwohner verloren. Von den Zurückgebliebenen lebt ein Drittel unterhalb der Armutsgrenze. Ganze Viertel stehen leer. Die Stadt hat nicht einmal das Geld, die Ruinen abzureißen.
Aber die Armut beschränkt sich nicht auf den Moloch Detroit. Die Herbstfärbung an diesem sonnigen, wolkenlosen Tag ist noch schöner als alles, was ich in Neuengland gesehen habe, das ja für seinen Indian Summer berühmt ist. Davon abgesehen könnten die Unterschiede zwischen den beiden Regionen größer kaum sein. Auf den Grundstücken stehen keine Villen, sondern Fertighäuser oder Trailer. Man sieht, dass hier im Sommer viele Leute Urlaub machen: einfache Blockhäuser und viele, viele Campingplätze. Ansprechende kleine Hotels, Luxusrestaurants? Nichts davon.
Im Nordwesten von Michigan liegt Idlewild: bis 1964 einer der wenigen Orte, an denen Schwarze in den USA Ferien machen konnten und Land erwerben durften. Ein Urlaub in Idlewild war ein Ausflug in die Welt der Mittelschicht,
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