Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
bleibt sowieso keine Zeit.« Keine Fotos. Von wem auch? Scott ist geschieden. Wie alle Trucker, mit denen ich rede.
Am ausführlichsten unterhalte ich mich mit Harold Patton. Er ist selbstständig und hat mit seinem Lastwagen gerade Vogelfutter nach Dayton in Ohio geliefert. Jetzt macht der 50-Jährige in einem Lokal, wo es extragroße Portionen gibt, eine Pause, bevor er nach Detroit weiterfährt, um dort Reifen zu laden. Er sieht so aus, als ob er häufig extragroße Portionen isst. Eine der Freuden, die ihm niemand nehmen kann. »Sie leben doch gar nicht in einem freien Land«, sagt er wegwerfend zu mir. »Was für Freiheiten haben Sie denn schon?« Na ja – wir dürfen sagen, was wir denken. Wählen, wen wir wollen. Leben, wo wir möchten. Reisen, wohin es uns zieht. Er winkt ungeduldig ab: »Aber in Ihrem Land dürfen nicht alle eine Waffe tragen, die das wollen, oder?« Nein. Dürfen sie nicht. »Sehen Sie. Ich darf eine Waffe tragen, um meine Familie zu schützen. Sie nicht. Sie sind nicht frei.«
Harold Patton hat also eine Waffe in seinem Lastwagen? »Nein. Das wäre illegal.« Was hat er denn zu Hause für Waffen? »Gar keine. Aber ich mag das Gefühl, dass ich eine Waffe besitzen könnte, wenn ich das wollte.« Scherzt er? Ist da ein Zwinkern in seinem Auge? Nein. Er meint das ganz ernst. Der Graben der wechselseitigen Verständnislosigkeit ist tief.
Der Erste von uns beiden, der eine Brücke bauen will, ist Harold Patton: »Stellen Sie sich vor, die Araber versuchten, Ihr Land zu überrennen. Würden Sie Ihre Lieben nicht schützen wollen?« Ich versuche, mich in die Situation hineinzudenken. In vielerlei Hinsicht keine ganz leichte Aufgabe. Dann sage ich voll tiefer innerer Überzeugung: »Nein. Nicht mit einer Waffe.« Es wäre auch sicher eher im Interesse meiner Lieben, wenn ich das gar nicht erst versuchte. Harold Patton zuckt die Schultern. Verächtlich. Ein bisschen ratlos.
Der Trucker erhält seine Aufträge meist über Mobilfunk. Seit 15 Jahren fährt Patton »over the road – über die Straße«. Das ist ein Fachausdruck, der bedeutet: Er fährt keine regelmäßigen Etappen, sondern jede Strecke, die er kriegen kann. Egal, wie weit sie ist. Als er in dem Gewerbe anfing, war er nur alle drei, vier Monate mal zu Hause. Jetzt schafft er es zweimal die Woche heim nach North Dakota, sagt er. Er sagt aber auch, dass der ökonomische Druck immer größer werde. Die Kanadier kämen aus dem Norden über die Grenze, die Mexikaner aus dem Süden, und gemeinsam nähmen sie »den Amerikanern« die Arbeit weg. Wütend macht ihn das nicht: »So läuft es halt.« Es klingt abgeklärt und resigniert.
Die Ehe von Harold Patton ist kaputtgegangen. Die Bindung an Sohn und Tochter sei ihm jetzt das Wichtigste, erzählt er. Deshalb würde er seinem 13-Jährigen auch dringend davon abraten, in die Fußstapfen des Vaters zu treten: Man sei einfach zu lange von zu Hause weg. »Es ist kein gutes Leben. Es ist ein scheußliches Leben.« Und was hält er von dem Bild, er sei der König der Landstraße? »Das ist einfach ein Scheiß.« Was ihn aufrecht hält: das Gefühl, ein freier Mann zu sein. In einem freien Land. »Ich bin stolz darauf, Amerikaner zu sein.«
John Steinbeck hat häufig eine Pause auf Raststätten für Lastwagenfahrer eingelegt. »Da die Fernfahrer eine Gruppe von Spezialisten sind, die ihr eigenes Leben führen und nur mit ihresgleichen verkehren, hätten diese Raststätten es mir möglich gemacht, das Land zu durchqueren, ohne ein einziges Mal mit einem Ortsansässigen zu sprechen. Denn die Trucker kreuzen über die Oberfläche der Nation, ohne richtig dazuzugehören.« Manches hat sich in einem halben Jahrhundert gar nicht verändert.
Anderes schon. Container gibt es erst seit 1956. Als Steinbeck reiste, hatten sie sich noch nicht durchgesetzt, und er schilderte immer wieder die Fracht, die er auf den Lastwagen in den verschiedenen Regionen zu sehen bekam. Darum beneide ich ihn. Ich denke, der Eindruck von den Produkten einer Region prägt sich durch den Augenschein besser ein als durch lexikalisches Wissen. Aber heute sieht man allenfalls mal einen Laster mit Neuwagen oder mit Holz. Fast alle anderen Ladungen werden geschlossen transportiert, wenn nicht im Container, dann in einem speziell für das jeweilige Fahrzeug konstruierten Aufbau. Das ist bei uns in Deutschland zwar auch nicht anders, fällt mir aber hier, wo alle meine Sinne auf »Empfang« gestellt sind, zum ersten Mal unangenehm
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