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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Gaus
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auf. Wieder ein sinnlicher Eindruck, dessen uns der technische Fortschritt beraubt hat.
    Was für die Lastwagen gilt, gilt natürlich mindestens ebenso sehr für den Schienentransport. Wahrscheinlich ist kein anderes Verkehrsmittel je so sehr romantisiert worden wie die Eisenbahn in den USA. Aus guten Gründen. Erst die Transkontinentalverbindungen schafften die Voraussetzung für die Anbindung der Pazifikregionen – und beendeten die Ära des »Wilden Westens« ein für alle Mal. Die Möglichkeit, leicht verderbliche Güter schnell zu transportieren, die Erfindung der Kühlwagen, die Einrichtung zentraler Schlachthöfe: All das bedeutete den Beginn der Nahrungsmittelindustrie, ja, der Industriegesellschaft überhaupt. Vier Jahre nach dem Bürgerkrieg, am 10. Mai 1869, trafen die Schienentrassen der Central Pacific Railroad von Kalifornien her und die der Union Pacific Railroad von Nebraska kommend aufeinander, und es wurde in Utah der »goldene Nagel« eingeschlagen, der die erste transkontinentale Eisenbahnverbindung fertigstellte. Eine neue Ära begann.
    Einem weitverbreiteten Irrtum zufolge ist diese Ära schon lange vorbei. Da Eisenbahnen für den Personentransport in den USA so gut wie keine Rolle spielen, wird auch ihre Bedeutung für den Gütertransport oft unterschätzt. Dabei werden in den Vereinigten Staaten rund 40 Prozent aller Waren auf der Schiene transportiert – viel mehr als in der Europäischen Union, wo der Anteil nur etwa 14 Prozent beträgt. Was unter anderem daran liegt, dass es in Europa nach wie vor 20 verschiedene Signalsysteme gibt, sechs Stromspannungen und vier unterschiedliche Spurweiten der Schienen. Wenn es denn konkret wird, dann sind wir von einer »Union« noch ziemlich weit weg.
    In den USA zuckeln endlos lang erscheinende Güterzüge durchs Land, die im Schnitt 3000 Tonnen Fracht transportieren. Für deren Fahrpläne muss kein schnellerer Personenverkehr berücksichtigt werden, so rollen sie in einem Tempo von nicht mehr als 60, vielerorts sogar nur etwa 20 Stundenkilometern dahin. Ein Container am anderen. Für die Umwelt ist das gut – die Luft wird dadurch weniger verpestet als durch den Lkw-Verkehr. Fürs Auge ist es ermüdend. Ob da Tomaten, Kinderspielzeug oder Altmetall vorbeirollen oder ob die Container gänzlich leer sind: man weiß es nicht. Die Möglichkeiten, fundierte Urteile durch Augenschein zu gewinnen, sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten dramatisch geschwunden. Sie schwinden weiter. Wahrscheinlich ist das unabänderlich. Aber wir sollten das im Kopf behalten, wenn es um die Frage geht, wie leicht wir belogen werden können. Das gilt nicht nur für wirtschaftspolitische Fragen.
    Nach meinem Gespräch mit Harold Patton habe ich spätabends im Motel ein unheimliches Erlebnis. Im Nachbarzimmer streitet sich ein Paar – oder zumindest: der Mann streitet. Was die Frau sagt, kann ich nicht verstehen, nur leises Murmeln dringt durch die Wand. Was er sagt, ist hingegen unüberhörbar. Es geht um eine Vaterschaft, die er anzweifelt. Zornig, immer lauter. Plötzlich Ruhe. Dann schlägt eine Tür. Kurz darauf springt ein Auto an. Im Nachbarzimmer herrscht vollständige Stille. Kein Schluchzen, kein Fernseher. Nichts.
    Mord? Quatsch. Aber irgendwo auf der Welt passieren schließlich Morde. Jeden Tag. Hier? Quatsch. Ob ich rübergehen soll? Aber was soll ich denn sagen? Was soll ich machen, wenn die Frau nicht öffnet? Es weiß ja niemand, dass ich den Streit mitbekommen habe. Ich kann einfach so tun, als ob ich nichts gehört habe. Also gar nichts. Genau dafür entscheide ich mich dann auch, und ich fühle mich dabei feige und verantwortungslos. Aber dieses Gefühl lässt sich leichter ertragen als die Angst davor, mich lächerlich zu machen. Wie gesagt: Es bekommt ja niemand mit. In den nächsten Tagen verfolge ich Nachrichten aus der Region ungewöhnlich aufmerksam. Meine Erleichterung ist groß, als nie von einem Leichenfund in einem Motel an der Autobahn die Rede ist.
    Die Anonymität in Motels der USA ist mit keiner anderen Anonymität vergleichbar, die ich kenne. Selbst wenn ich mehrere Tage in einem nahezu leeren Haus übernachte, interessiert sich niemand für mein Tun und Lassen. Zwar müssen Gäste mittlerweile als Folge der neuen Sicherheitsvorschriften nach den Terroranschlägen in den meisten Unterkünften einen Lichtbildausweis vorzeigen und einige Daten angeben, vergleichbar den Anmeldeformularen in deutschen Hotels, aber der Kontakt bei der Anreise

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