Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
sie selbst schon ihr ganzes Leben lang nichts anderes. Mit einem Wohnwagen, der aus den Siebzigerjahren stammt, mit vier Hunden und mit ebenso vielen Vögeln reisen sie, wohin es sie gerade zieht. Natürlich sind sie nicht krankenversichert. Das sagen sie nicht nur, das sieht man auch. Elvira hat nur noch wenige Vorderzähne. Beide trinken zu viel. Auch das sieht man.
Was man außerdem sieht und spürt: wie zufrieden, ja glücklich beide sind. Ganz zart, ganz rücksichtsvoll gehen sie miteinander um. Nach zehn Jahren Ehe. Wir sind uns schnell einig, dass Minnesota irgendwie blöd ist. Obwohl: »Du hättest in den Norden fahren müssen!« Ja, und Fargo und überhaupt alle Städte kann man vergessen. Wisconsin hingegen ist toll, natürlich. Und wenn ich nach Washington State käme, dann müsse ich immer ganz dicht an der kanadischen Grenze entlangfahren. Die Leute seien freundlicher, die Landschaft sei schöner, alles sei billiger als anderswo. Über Montana braucht man gar nicht zu reden. Das ist sowieso wunderbar. Kalifornien? Na, wenn ich da unbedingt hin will, dann nur in den Norden. Alles andere sei nicht zu ertragen.
Wir schwelgen in schönen Erinnerungen und schmecken kommende herrliche Erlebnisse vor. Chris und Elvira können es erkennbar kaum aushalten, dass ich morgen – schon morgen! – abreise. Abreisen darf. So gerne würden auch sie weiterziehen. Sie sind jedoch nicht unvernünftig, deshalb werden sie den Winter über auf der Gästeranch bleiben. »Aber im Frühjahr, wenn uns der Hafer sticht«, sagt Elvira, »dann nehmen wir unseren Wohnwagen und ziehen wieder los.« Mit allen vier Hunden. Und mit den Vögeln.
Man muss in einer Situation wie meiner aufpassen, sich nicht von der Romantik der Straße einfangen zu lassen. Man muss allerdings auch aufpassen, dass man Glück nicht nur dann als solches akzeptiert, wenn dessen Form ins eigene Weltbild passt. Mir ist der Gedanke zuwider, dass Chris und Elvira ohne jede soziale Sicherheit sind, dass sie sich keine Arztbesuche leisten können, dass sie im Alter völlig mittellos sein werden. Aber ich muss zugeben: Die beiden führen offenbar genau das Leben, das sie führen wollen. Ob es klug ist, was sie tun, geht mich nichts an.
Ich kann verstehen, dass sie eifersüchtig auf meine Weiterfahrt nach Montana sind. John Steinbeck nannte die Gegend »ein großes Stück Pracht und Herrlichkeit«. Die Dimensionen seien riesig, aber nicht überwältigend, das Land strotze von Gras und Farben und die Berge seien von der Art, wie er sie erschaffen würde, wenn Berge jemals auf seiner Agenda stünden. »Für andere Staaten empfinde ich Bewunderung, Respekt, Anerkennung, sogar eine gewisse Zuneigung, aber bei Montana ist es Liebe, und Liebe ist schwer zu erklären, wenn man verliebt ist.«
Mir geht es ähnlich. Vor ein paar Jahren war ich schon einmal hier gewesen, und ich hatte mich damals gar nicht trennen mögen. Die ganze Reise über habe ich mich jetzt schon auf Montana gefreut, und Montana begrüßt mich dann auch herzlich. In Gestalt der ehemaligen Lehrerin Karen Teeters, die seit ihrer Pensionierung stundenweise im Besucherzentrum am Rande der Autobahn arbeitet.
Diese Besucher- oder Willkommenszentren, die an den großen Straßen immer unmittelbar hinter der Grenze eines neuen Bundesstaates liegen, sind etwas Wunderbares. Man bekommt Landkarten, Broschüren, Coupons für ermäßigte Hotelpreise, Informationen über Sehenswürdigkeiten jedes Interessengebiets. Das Beste: Die Mitarbeiter sind kenntnisreich, freundlich und geben sich große Mühe, die Antworten auch auf komplizierte oder dumme Fragen herauszufinden. Alles ohne Gegenleistung. Nicht einmal ein Trinkgeld wird erwartet.
Bei Karen Teeters geht das Engagement über professionelle Freundlichkeit hinaus – sie hat Lust auf ein Gespräch. Also folge ich ihr ein paar Meilen bis ins Café ihres Heimatdorfes Wibaux. 600 Einwohner hat der Ort, nicht einmal drei Quadratkilometer groß ist er. Ein Marktflecken. Die Kellnerin des Cafés ist eine ehemalige Schülerin, die Karen sofort stolz vom Sieg in einem Sportwettbewerb erzählt. Am Nachbartisch sitzen andere junge Leute von der High School, an der sie bis vor ein paar Monaten unterrichtet hat. Wieder werden ein paar Worte gewechselt. Die 65-Jährige ist hier zu Hause.
Dabei ist sie, wie sie selbst sagt, ein »Fremdgewächs«. Sie stammt aus dem Bundesstaat Washington an der Pazifikküste und sie hat sich vor über 40 Jahren auf einer Reise in ihren Mann
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