Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
Staaten und war der größte Produzent von Baumwolle. Deshalb widersetzte sich Mississippi einer Beschränkung oder gar Abschaffung der Sklaverei besonders erbittert. Sklaven waren es ja vor allem, die auf den Baumwollplantagen arbeiteten. Nach der Wahl von Abraham Lincoln zum Präsidenten – der damals übrigens noch gar nicht für ein vollständiges Verbot des Menschenhandels eintrat, das kam erst später – erklärte Mississippi am 9. Januar 1861 als zweiter Staat nach South Carolina seinen Austritt aus der Union.
Die USA sind seit Jahrzehnten die führende Weltmacht. Millionen, vermutlich sogar Milliarden Menschen möchten wenigstens vorübergehend gerne hier arbeiten oder studieren. Nicht einmal diese starke, selbstbewusste Nation hat es fertiggebracht, die Spuren eines Bürgerkrieges, der vier Jahre dauerte und fast eineinhalb Jahrhunderte weit zurückliegt, aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen oder auch nur die wirtschaftlichen Verluste auszugleichen, die durch die Teilung des Landes damals entstanden.
Wie lange trägt man am historischen Erbe? Und wie schwer? Ich traue mir kein abschließendes Urteil zu. Dafür ist meine Reise denn doch allzu kurz. Aber Fragen wirft diese Reise auf, die ich mir vorher nicht einmal gestellt habe. Allein sie sind furchterregend genug im Hinblick auf andere Teile der Welt, auch hinsichtlich meines eigenen Heimatlandes. Dessen heutiges Territorium über vier Jahrzehnte lang geteilt und die Nahtstelle zwischen Ost und West in der Zeit der Kalten Krieges gewesen ist. Vielleicht werden auch bei uns noch die Ur-Ur-Urenkel die Folgen dessen spüren.
Mississippi hat die Kriegsflagge der Konföderierten in die Fahne des Bundesstaates integriert. Klein, aber unübersehbar. Oben links. Ein Referendum mit dem Ziel, eine neue Flagge ohne dieses symbolische Signum einzuführen, scheiterte 2001 an einer Mehrheit von fast zwei Dritteln der Befragten. Vor voreiligen Urteilen sei auch in diesem Zusammenhang gewarnt. Ein unerwartet großer Teil der schwarzen Einwohner, die etwa ein Drittel der Bevölkerung von Mississippi stellen, votierte ebenfalls für die Beibehaltung der alten Flagge. Was bedeutet nationale Identität? Wie definiert sie sich? Je länger ich unterwegs bin, desto komplizierter erscheinen die Dinge.
Der Besitzer des Motels etwas außerhalb von Biloxi, in dem ich heute übernachte, hat derzeit allerdings ganz andere Sorgen. Vor acht Monaten hat er sein Haus neu eröffnet. Es ist grauenvoll geführt. Die Schreibtischlampe hat keine Glühbirne, das Bett keine Decke, die Bedienung für den Fernseher ist unauffindbar. Der Stöpsel für die Badewanne funktioniert auch nicht. Ich bleibe sanft, entgegen meiner sonstigen Natur. Wie kann ich mich bei jemandem beschweren, von dem ich das Gefühl habe, ich sollte eigentlich für ihn spenden? Zumal er mir ja sofort eine Decke bringt, eine Glühbirne und eine Fernbedienung, als ich darauf hinweise, dass diese Gegenstände mein Wohlbefinden steigern würden. Die Frau sei mit den Kindern eben noch evakuiert, sagt er.
Auf meine Frage, wo in der Nähe ich eine Kleinigkeit essen könnte, empfiehlt er mir ein Lokal, das etwa acht Kilometer von hier entfernt ist. Eigentlich will ich heute nicht mehr ins Auto steigen. Ich bin nicht nur hungrig, sondern auch müde. »Wir haben früher ein Restaurant betrieben, gleich nebenan«, erklärt der Motelbesitzer bedauernd. »Aber das ist weggefegt worden.« Wie so vieles andere. Noch kämpft er mit der Versicherung – besser gesagt: gegen sie. Zwei von drei Immobilien, die ihm gehörten, hat er verloren. Wieso wagt er überhaupt den Wiederaufbau? Der Mann, der gerade seinen Kindern in meiner Gegenwart telefonisch ein Gute-Nacht-Lied vorgesungen hat, schaut mich mit einem Gesichtsausdruck an, der mich bereuen lässt, gefragt zu haben. »Ich hoffe eben, dass sich eine solche Katastrophe erst in 60 Jahren wieder ereignet.«
»Und die globale Erwärmung?« Meine Güte. Der Motelbesitzer wirft mich nicht aus der Rezeption, seltsamerweise. Ich glaube: An seiner Stelle hätte ich das getan. Er sagt nur tonlos: »Neulich habe ich mir einige Kleidungsstücke gekauft. Hinterher habe ich einen Freund gefragt: Warum tut man das eigentlich? Man kann sowieso nichts mitnehmen. Es kann doch alles sofort wieder weg sein.« Wie leicht mir Urteile und Ratschläge fallen, aus meiner sicheren Entfernung heraus. Gerade jetzt allerdings schäme ich mich einfach nur ob meiner Taktlosigkeit. Was soll ich dem Mann
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