Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
zurecht? Dessen Bevölkerung mehrheitlich findet, notfalls müssten Zivilisten anderer Staaten halt hinnehmen, dass ihre Häuser zerbombt werden, wenn es nur einem höheren Ziel dient? Ich bin irrational und ungerecht, das weiß ich. Wären meine Teppiche nach einem Wasserschaden ruiniert gewesen, dann wäre ich auch verärgert.
Aber die Klagen, die fast überall im French Quarter zu hören sind, haben einen unangenehm beleidigten Unterton. Als sei es ganz und gar unfassbar und sehr unfair, dass ausgerechnet hier so etwas Schreckliches passiert ist. Warum eigentlich? Auf der ganzen Welt leiden Menschen unter Naturkatastrophen, und sie verlieren mehr als ein paar Teppiche. Maßnahmen, die das möglicherweise eindämmen könnten, werden gerade von den USA nachdrücklich abgelehnt.
Sobald man von der Touristengegend in andere Stadtviertel von New Orleans und vor allem nach Süden ins Mississippi-Delta fährt, werden solche abstrakten und deshalb überheblichen Überlegungen von einem ungläubigen Mitgefühl abgelöst. Zweieinhalb Jahre nach »Katrina« sieht es vielerorts immer noch aus wie nach einem Krieg. Schutt und Müllberge am Straßenrand, in sich verzogene, windschiefe Häuser, in denen nie wieder jemand wohnen wird, deren Besitzer aber offenbar nicht einmal die Kraft – oder das Geld – zum Abbruch haben. Krater im Asphalt. Dächer mit großen, klaffenden Löchern. Offene Haustüren, halb aus den Angeln gerissen, durch die man noch zerschmetterte Möbel sieht. Dazwischen einige Neubauten und Wohnwagen neben alten Häusern, an denen gearbeitet wird. Auch das erinnert an ein Kriegsgebiet. Kurz nach dem Waffenstillstand.
Ich fahre zunächst alleine durchs Delta und denke, dass hier, etwa 60 Kilometer südlich von New Orleans, offenbar wenigstens nicht sehr viele Leute gelebt haben. Das ist ein Trost. Und ein Irrtum. An der Anlegestelle einer Fähre treffe ich einige Gemeinderatsmitglieder, die zu einer Sitzung mit Kollegen auf der anderen Seite des Flusses fahren wollen, um zu beraten, wie der Postzustelldienst endlich wieder in Gang gebracht werden kann. Don Beshel findet es wichtig, dass über die Lage im Delta berichtet wird, verzichtet deshalb auf die Konferenz und steigt zu mir ins Auto. Seine Erklärungen bestätigen die alte Erkenntnis: Man sieht nur, was man weiß.
Der 50-Jährige ist gewählter Kommunalpolitiker in Plaquemines Parish, einem Bezirk, der umgeben ist vom Golf von Mexiko und geteilt wird durch den Mississippi, der hier ins Meer fließt. Im Jahr 2000 hatte dieser Sprengel insgesamt etwa 28000 Einwohner. Und heute? Wer weiß. Immer wieder zeigt Don auf wilde, scheinbar unberührte Areale mit meterhohem Schilf und Gräsern: »Hier haben ungefähr 30 Leute gewohnt.« – »Hier 50.« – »Hier 200.« Die Natur holt sich in diesem Klima schnell das zurück, was Menschen urbar gemacht haben.
In dem Ort Pointe a la Hache, der zum Plaquemines Parish gehört, gibt es nicht einmal mehr einen Lebensmittelhändler. Don Beshel betreibt den Kiosk am Fischereihafen, die einzige Einkaufsmöglichkeit in weitem Umkreis. Sein Angebot: Kaffee, Mineralwasser, Bier, gefrorene Sandwiches, Zahnpasta, Batterien, Reis, Brot. Keine Zeitungen. Wer auf die nicht verzichten mag, muss fast 50 Kilometer weit fahren. Einfache Strecke. Zweimal in der Woche kauft Don selbst in New Orleans ein. »Lieferanten kommen nicht mehr hierher. Es lohnt sich nicht. Aber ich verdiene genug, um wenigstens nicht schließen zu müssen.«
Don stammt aus Pointe a la Hache. Vor einigen Jahren hat ihn seine Frau – mühsam – davon überzeugen können, ein paar Kilometer weiter in den Norden in ein etwas höher gelegenes Haus zu ziehen. Weil die schulischen Möglichkeiten für die vier Kinder ihrer Ansicht nach dort besser waren. So hat er auch nicht all sein Hab und Gut verloren, sondern hatte nach »Katrina« das Wasser nur etwa eineinhalb Meter hoch im Wohnzimmer stehen. Sehr unangenehm, aber reparabel.
In seinem Heimatort schoss das Wasser hingegen zehn Meter hoch in Gebäude. Die es danach nicht mehr gab, zumal auch die Pumpen unter Wasser standen und deshalb natürlich nicht mehr funktionierten. »Nach dem Hurrikan sah alles hier ganz sauber aus.« Die Kraft des Wassers sei so stark gewesen, dass viele Häuser »praktisch explodierten« und der ganze Müll ans andere Ufer des Mississippi gespült wurde. »Die Leute dort haben unsere Trümmer bekommen.«
Hat er seiner Frau für den erzwungenen Umzug gedankt? Offenbar nicht
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